Rasse, Religion sie sind. Diese Forderungen sind in der Ethik zentral, aber sie stammen nicht aus der Ethik. Besser gesagt: Die Ethik setzt diese Ansprüche voraus. Wie ist das zu verstehen?
Menschenwürde
Zur Menschenwürde heißt es in der Deutschen Verfassung, Artikel 1, im ersten Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Diese Unantastbarkeit der Menschenwürde ist nicht das Ergebnis eines theoretischen oder wissenschaftlichen Prozesses. Sie ist nicht das Resultat von Untersuchungen darüber, was Menschen sind, was sie machen, was sie fühlen oder denken. Das könnte man natürlich auch machen. Man könnte solche Untersuchungen anstellen und dann sehen, was dabei herauskommt.
Auf keinen Fall käme das heraus, was wir mit dieser absoluten, nicht relativierbaren Forderung der Menschenwürde meinen. Unantastbarkeit heißt Unantastbarkeit. Da gibt es also nichts daran zu drehen. Diese Menschenwürde gilt – und das ist typisch für alle Grundansprüche ethischer Art – ohne dass sie in ihrer Herkunft begründet worden wäre. Einfach deswegen, weil das gar nicht geht. Wie sollte das denn gehen?
Wir haben Geltungen, – das Wort klingt ein bisschen komisch, manche sagen Geltungsansprüche – die „unabgeleitet“ sind. Die zwar nicht aus dem Blauen kommen, aber die da sind und die eine Gültigkeit haben, auf die wir uns berufen können. Also auch die Politik, die Rechtssprechung. Überall in diesen Bereichen gilt die Menschenwürde. Sie greifen auf die Geltung dieses Grundanspruches zurück. Die Ethik tut nichts anderes. Die Ethik ist also keine Art von „Generationsmaschine“, „Herstellungsmaschine“ ihrer eigenen Grundlagen.
Ähnlich kann auch das Recht die Menschenwürde nicht „herstellen“. Das Recht kann ähnlich wie die Ethik dafür sorgen, dass die Menschenwürde respektiert wird. Dass ihre Geltung auch tatsächlich anerkannt wird.
Wir haben hier also drei Perspektiven auf diese Grundlagen:
- Die Geltung selbst: gilt etwas, oder gilt es nicht?
- Die Anerkennung durch den Menschen, nicht nur im Denken, sondern vor allem auch im Handeln und schließlich
- die Rechtfertigung von Folgerungen, die aus diesen Grundansprüchen entstehen.
Bei den Gleichheitsansprüchen sind diese Folgerungen sehr deutlich und leicht erkennbar. Die Grundlagen, die wir da in Anspruch nehmen, weiten sich wie die Äste eines Baumes. Aus dem ursprünglichen Gleichheitsanspruch entstehen alle möglichen detaillierten Gleichheitsansprüche, die sowohl im Recht als auch in der Ethik als auch in der Politik eine Rolle spielen.
Die „Freiheit der Berufswahl“ ist ein Beispiel für etwas, was aus der Freiheit entsteht, ebenso die „Bewegungsfreiheit“. Die Freiheit, sich einen Wohnort zu wählen, sich einen Partner zu wählen usw. All diese „Freiheiten“ lassen sich im einzelnen begründen. Sie lassen sich tatsächlich von dem ursprünglichen Grundprinzip der Freiheit ableiten.
Nicht ableitbare Prinzipien
Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit sind als Grundprinzipien nicht abgeleitet, sind auch nicht ableitbar. Sie gelten und werden anerkannt. Aus ihnen entstehen eine Reihe von Ansprüchen, Rechten, ja sogar Prinzipien, die gerechtfertigt werden können, rechtfertigbar sind.
Das klingt vielleicht komplizierter als es ist. Aber eines ist entscheidend: Wir müssen verstehen, was es heißt, dass so etwas wie die Menschenwürde „unabgeleitet“ gilt.
Es heißt erstens, wir sollten nicht den „fehlgeleiteten“ Versuch machen, eine Begründung für die Menschenwürde zu suchen, oder für die Gleichheit oder die Freiheit. Das wäre fehlgeleitet, weil es so etwas nicht gibt.
Ähnlich fehlgeleitet wäre der Versuch, in der Physik die Frage zu stellen: Warum existiert das Universum? Oder: „Warum gab es den Urknall? Das sind Fragen, über die man vielleicht nachdenken kann, aber sie sind nicht sinnvoll. Die Geltung der ethischen Grundlagen ist in der Moderne nicht immer gut verstanden worden, weil die Moderne etwas entwikkelt hat, was man mit guten Gründen „Rationalismus“ nennt. Der Rationalismus ist eine geistige Haltung. Sie besteht darin, dass man glaubt, für alles und jedes benötige man eine Begründung. Das ist typisch rationalistisch. Das ist prima, wenn es um wissenschaftliche Fragen, also nicht um Grundlagen geht. Aber wenn es um Grundlagen geht, vor allem um die sogenannten „normativen Grundlagen“, dann ist diese rationalistische Fragerei „für die Katz“.
Was unabgeleitet gilt, verhält sich wie eine ganz normale Tatsache. Ich würde das auch ganz gerne eine „sittliche“ oder „normative Tatsache“ nennen. Nun werden Sie sagen: So etwas wie das Verbot, Menschen zu töten, das ist doch keine Tatsache, sondern das ist ein Gebot. Oder: Die Menschenwürde enthält eine Reihe von Geboten. Das ist doch keine Tatsache.
Tötungsverbot
Doch, es ist eine Tatsache, denn zur Tatsache machen wir Menschen alles, was wir als Tatsache anerkennen. Also, wenn jemand Sie fragen würde - es ist eine ethische Frage: Dürfen Menschen auf Ihr eigenes Verlangen hin getötet werden oder nicht? Das ist keine einfache ethische Frage. Dann nehmen Sie – oder wenn ich gefragt werde, nehme ich – Bezug auf das Tötungsverbot.
Das Tötungsverbot hängt eng mit der Menschenwürde zusammen, ist aber ein eigener Grundanspruch.
Natürlich gilt dieses Tötungsverbot nicht unter allen Bedingungen. Zum Beispiel im Krieg. Soldaten unterliegen diesem Verbot nicht. Allerdings dürfen Soldaten nicht grausam töten, nicht mutwillig usw. Und natürlich, wenn das eigene Leben in Gefahr und die Abwehr des Angriffs nur durch die Tötung des Angreifers möglich ist – auch da ist töten erlaubt. Aber das ist eine schwierige Frage.
Kehren wir zurück zum ganz normalen Tötungsverbot, ein Verbot als sittliche Tatsache. Wenn Sie also jemand fragt: Was heißt das eigentlich? Dann können Sie nur antworten: Dieses Verbot gilt bei uns. Und wenn jemand nicht versteht, worin dieses Verbot besteht, weil er zum Beispiel denkt: Ich bin kräftig, vielleicht hab ich sogar eine Pistole oder ein Messer. Warum soll ich also nicht einen Menschen töten dürfen, der mir einfach auf die Nerven geht, nachts Lärm macht oder mich dumm anredet?
Wer das nicht versteht, weiß nicht, was diese Tatsache bedeutet. Kennt keine sittlichen Tatsachen. Normalerweise wissen wir aber – wir wissen es im genauen Sinne des Wortes Wissen, dass es verboten ist, Menschen zu töten und dieses Verbot verstehen wir. Wir behandeln es wie eine Tatsache.
Sittliche Tatsachen
Es gibt viele Arten von Tatsachen. Eine mit den ethischen oder sittlichen Tatsachen eng verwandte Menge von Tatsachen ist die, die wir in den Gesetzestexten finden. Wenn wir zum Beispiel an das Strafrecht in unserem Land denken, da werden viele Delikte als nicht nur verachtenswert sondern verurteilenswert betrachtet. Ein Tötungsdelikt und das, was für dieses Tötungsdelikt als Strafe angenommen wird, wird ebenfalls – so wie ich es gerade erklärte – wie eine Tatsache behandelt. Die „Tatsächlichkeit“ wird also in vielen Zusammenhängen vorausgesetzt, obwohl sie nicht dem entspricht was zum Beispiel die „Tatsächlichkeit“ eines Tisches ausmacht.
Nicht nur das, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können, sind Tatsachen, sondern auch das, was wir Menschen als Regeln unseres Umganges, als Grundlagen unseres sittlichen Urteilens anerkennen.
Es ist also zu merken und man muss sich das, wenn man ethisch argumentiert, wirklich vor Augen führen, wann immer man vor einem Problem steht: Es gibt sittliche Tatsachen, auf die wir Bezug nehmen, deren Geltung nicht ableitbar ist. Wenn wir argumentieren wollen, dann nur, wenn wir diese Grundlagen auch akzeptieren. Wenn wir das nicht tun, nützen die schönsten Argumente nichts.