Eckart zur Nieden

Der verschwundene Brief


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auf die Wange.

      „Ich versuche sie noch etwas aufzuhalten“, sagt sie. Er schließt die Tür.

      Daniel war nur sehr widerwillig zu den Treffen der Hitlerjungen gegangen, als sie dort noch nicht wussten, dass er Jude war. Immer nach dem Motto seines Vaters: Nur nicht auffallen!

      Aber immerhin hatte er dort gelernt, wie man sich eine Wand hinunter abseilt.

      Unten angekommen, lässt er das Seil hängen. Das offene Fenster würde ihn sowieso verraten.

      Den weiteren Fluchtweg hatte er gründlich ausgekundschaftet. Über den Hof auf die Parallelstraße, schnell hundert Meter nach rechts und dann in eine der kleinen dunklen Gassen.

      Natürlich würde er gern aus der Ferne beobachten, was sie mit seiner Mutter machen. Aber das würde ihn unnötig in Gefahr bringen. Er hastet weiter und bleibt erst stehen, als mindestens ein Kilometer Luftlinie zwischen ihm und dem Haus liegt. Dann setzt er sich auf den steinernen Pfosten eines niedrigen Gartenzauns.

      Eigentlich hat er vorgehabt, zunächst bei seinem Freund Hans Droste Zuflucht zu suchen. Aber jetzt überlegt er – das geht nicht! Die Gestapo weiß ja so ziemlich alles, sie wird auch wissen, dass er oft und lange im Pfarrhaus in Niedernrode war. Dort werden sie nach ihm suchen. Nicht auszudenken, was das auch für Drostes bedeutet, wenn sie ihn dort finden sollten!

      Aber wohin dann?

      Sein Plan B fällt ihm ein. Eigentlich eher ein Plan Z oder so, nicht besonders gut. Aber er weiß sonst keinen.

      Eine halbe Stunde später steht er vor der Haustür von Frau Schultheiß, seiner Lehrerin für Latein und Geschichte. Sie ist so ein freundlicher Mensch, dass Daniel sich nicht vorstellen kann, von ihr abgewiesen zu werden. Sie hat ihn immer genauso behandelt wie die anderen, die in der letzten Zeit mehr und mehr von ihm abgerückt sind. Vielleicht sogar noch freundlicher, um die Unfreundlichkeit der Mitschüler auszugleichen. Außerdem hat Frau Schultheiß den Vorteil, dass sie allein lebt.

      Als er geklingelt hat, muss er warten. Natürlich, sie schläft sicher um diese Zeit. Aber er klingelt nicht gleich ein zweites Mal. Er will sie ja nicht ärgerlich machen.

      Nach einer Zeit, die ihm wie eine Viertelstunde vorkommt, aber wohl nur zwei oder drei Minuten dauerte, öffnet Frau Schultheiß im ersten Stock ein Fenster und schaut heraus.

      „Frau Schultheiß, entschuldigen Sie …“, flüstert er. Sie schneidet ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und antwortet nur: „Moment!“

      Kurz darauf öffnet sich die Haustür. Seine Lehrerin steht da im Morgenrock. Daniel fällt zum ersten Mal auf, dass sie ziemlich gut genährt aussieht. Was einem alles durch den Kopf geht, wo es doch jetzt viel Wichtigeres gibt!

      Frau Schultheiß nickt ihm zu. „Komm rein, Daniel!“ Anscheinend hat sie sofort begriffen, worum es geht.

      „Nicht lange, Frau Schultheiß, nur für den Rest der Nacht und morgen. In der nächsten Nacht will ich weiter …“

      „Mach einen großen Schritt über die dritte Stufe! Die knarrt so laut.“

      Als sie in ihrer Wohnung sind, gehen sie vom Flüstern wieder zu normaler Lautstärke über. „Sie wollten uns holen“, erklärt er. „Ich bin geflohen. Aber sie haben meine Mutter …“

      „Es tut mir leid, Daniel. Aber erzähle mir nichts weiter. Besser, ich weiß möglichst wenig. Möchtest du dich noch etwas zum Schlafen aufs Sofa legen?“

      „Ich kann jetzt doch nicht schlafen. Aber ich würde gern – hätten Sie bitte ein Blatt Papier und einen Stift für mich?“

      „Selbstverständlich.“ Sie holt beides aus einem anderen Raum, nimmt die Zierdecke vom Wohnzimmertisch und legt das Papier darauf. „Da kannst du schreiben.“

      „Und würden Sie auch noch … Ich weiß, es ist unverschämt, ich dringe mitten in der Nacht hier ein und …“

      „Lass mal! Ich helfe gern. Ich soll den Brief, den du schreibst, abschicken?“

      „Ja, bitte. An Hans Droste. Die Adresse haben Sie ja von der Schule. Ich schreibe sie noch mal auf.“

      „Das mache ich. Ich gehe jetzt wieder ins Bett. Du kannst dich nachher aufs Sofa legen. Solltest du morgen noch schlafen, wenn ich in die Schule muss – da ist Brot und was du sonst noch brauchst für ein Frühstück.“

      „Ganz herzlichen Dank!“

      „Schon gut! Ich wünsche dir … ja, was? Alles Gute? Der Wunsch ist vielleicht zu hoch gegriffen. Gutes Gelingen für deine Pläne wünsche ich dir. Und dass deine Mutter … na, gute Nacht, Daniel!“

      Sie tritt auf den Flur hinaus, um ins Schlafzimmer zu gehen, so schnell, dass Daniel sein „gute Nacht“ nur noch zu der verschlossenen Wohnzimmertür sagen kann.

      Dann legt er den Rucksack auf den Boden, setzt sich an den Tisch und nimmt den Stift zur Hand.

Kassel und Umgebung, 75 Jahre später

      „Ah – Mia! Ich freue mich, dass du mich besuchst!“

      „Mama hat gesagt, ich soll dich besuchen, Oma.“

      „Du sollst mich besuchen? Du tust es aber doch gern, nicht wahr?“

      „Klar, Oma! Ich hab dich doch lieb!“

      „Ich dich auch. Dann komm mal rein!“

      Die Großmutter und ihre Enkelin gehen in die Küche, wo Annette gerade dabei war, Kartoffeln zu schälen. Jetzt nimmt sie die Arbeit wieder auf, und die Enkelin setzt sich auf einen Küchenstuhl. „Können wir was spielen, Oma?“

      „Was denn?“

      „Ich sehe was, was du nicht siehst.“

      „Ach, weißt du, das geht schlecht, wenn ich das Essen vorbereite. Besser, wir unterhalten uns ein bisschen.“

      „Ist gut.“

      „Hat denn deine Mama was Besonderes vor, dass sie nicht auf dich aufpassen kann und dich hergeschickt hat?“

      „Weiß ich nicht.“

      „War’s schön im Kindergarten?“

      Mia nickt. Nach einer Weile sagt sie: „Du, Oma!“

      „Ja?“

      „Warum habe ich keinen Papa?“

      „Wie kommst du denn darauf? Du hast einen Papa. Jeder hat einen.“

      „Das stimmt nicht. Im Kindergarten haben alle einen. Nur ich nicht.“

      Frau Droste legt die letzte Kartoffel ins Wasser und das Schälmesser aus der Hand. „Hast du deine Mama danach gefragt?“

      „Die hat gesagt, ich soll dich fragen.“

      „Gut, ich erkläre es dir.“ Sie setzt sich auch, Mia verlässt ihren Sitzplatz und drängt sich bei Oma auf den Schoß. „Dein Papa ist mein Sohn. Darum bin ich deine Oma. Aber Papa hat deine Mama nicht geheiratet. Und er wohnt auch nicht hier. Er arbeitet ganz weit weg. Darum ist er nicht da, und es sieht so aus, als hättest du keinen Papa.“

      „Und warum ist er nicht da?“

      „Das ist eine gute Frage, Mia. Aber ich kann sie dir nicht beantworten. Ich habe ihm oft gesagt, er soll doch deine Mama heiraten, damit ihr eine richtige Familie seid. Und hierbleiben. Aber er will nicht auf mich hören.“

      Anette Droste fürchtet, ihre Enkelin nun in Probleme gestürzt zu haben, und ist darum angenehm überrascht, als Mia unbefangen das Thema wechselt. „Wo ist denn Melanchton?“

      Melanchton ist der Kater der Familie. „Ich habe ihn nicht gern in der Küche, wie du