Gestalten umher. Die Umrisse waren schemenhaft wie von nachtaktiven Tieren. Herr Schmitt schaute zu seinen schwarzen, glänzenden Schuhen. Die Ärmel hochgekrempelt, stand der kleine Mann mit zurückgekämmtem schwarzem Haar vor dem großen Mann, Spade. Er schüttelte unentwegt den Kopf.
„Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht?“ Er klopfte die Asche von der glimmenden Kippe. „Du bist Kellner, verdammt! Weißt du, was das Wichtigste an einem Kellner ist, außer seinen Fähigkeiten? Sein Gesicht! Soll den Gästen der Appetit vergehen? Wir sind ein Scheiß-Fünf-Sterne-Restaurant! Bei uns essen Promis!“
Wieder schüttelte er den Kopf und hoffte, dass Spade sich das Gesicht wie eine Gummimaske herunterreißen würde, um seinen bösen Scherz zu bekunden, doch Spade würde noch konnte sich das Gesicht herunterreißen, weil es nämlich nicht aus Gummi war, sondern aus Haut. Es war so eindeutig echt und so eindeutig schrecklich. Es wäre kein Problem, wenn man die Falschheit dieser Züge sofort als Maske identifizieren könnte, doch bei einem genauen Blick waren Poren zu sehen und gerade im Verschwinden begriffene Blutergüsse. Dieser Irre hatte sein hübsches Gesicht zu einer Fratze verzerren lassen.
„Sag mir, was ich mit einem Kellner wie dir anstellen soll, hm?!“, schrie er.
„Ruhig, ganz ruhig. Ich bin hergekommen, um zu arbeiten, obwohl mir sicher jeder Arzt geraten hätte, noch zu Hause zu bleiben, bis mein Gesicht geheilt ist.“
„Du hast einen ganzen Tag gefehlt!“, schrie Herr Schmitt. „Einen ganzen Tag, ohne Krankmeldung oder Entschuldigung. Kannst du dir vorstellen, was gestern los war? Uns hat einfach ein Kellner gefehlt und nicht irgendeiner, sondern du, Ben!“
„Ich heiße Spade“, beteuerte er.
Herr Schmitt drehte den ausgebrannten Filter zwischen den Fingern. Fast hätte er ihn einfach weggeschnippt und gerade wurde ihm bewusst, dass er auf das saubere Pflaster geascht hatte, was seinen Zorn nicht gerade dämpfte.
„Du warst schon immer irre. Wie konnte ich einen Verrückten wie dich überhaupt anstellen, Ben, verrate mir das mal?“
„Ben ist der Name, den mir meine Eltern gaben. Nicht der Name, den ich mir gab. Habe ich nicht das Recht, selbst zu entscheiden, wie ich heißen will?“
„Als du deinen ersten Tag hier hattest, blieb mir verdammt noch mal fast das Herz stehen. Verstehst du?! Ich bin fast gestorben, als du plötzlich das Tablett mit den vollen Sektgläsern in die Luft warfst!“ Herr Schmitt deutete es an. „Und ich traute meinen Augen nicht, als du es wieder auffingst, bevor auch nur ein Tropfen danebengehen konnte! Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber die Gäste liebten dich, wirklich. Du warst eine Scheißattraktion! Kannst du dir vorstellen, dass diese Modelady gestern da war und fragte: ‚Wo ist eigentlich Ben? Wo ist dieser akrobatische Kellner?‘ Ist dir klar, dass du ein höheres Gehalt bekamst als die anderen? Ist dir das klar? Ist dir klar, dass einige Promis nur herkamen, weil du hier bist, und nicht ins Dosier gingen? Nur, weil wir dich haben.“ Er kratzte sich nervös den Nacken, hätte fast wieder den abgebrannten Filter weggeschnippt und steckte ihn lieber in die Tasche. „Sag mir, was du dir dabei gedacht hast, aus deinem Gesicht eine Katastrophe zu machen.“
Spade zog seinen Mund breit, um zu lächeln, ohne es wirklich zu tun, was Herrn Schmitt sicher noch mehr provozierte. „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Meine sogenannte Fratze entspricht meiner Persönlichkeit mehr als das Gesicht Ihres Kellners. Ich habe ein Recht, so auszusehen, wie ich will. Es ist meine private Entscheidung.“
„Das kann schon sein, aber weißt du auch, dass deine‚persönliche Entfaltung‘ so dermaßen exzentrisch ist, dass du gesellschaftsunfähig wirst? Verdammt! Ich habe dich für einen schlauen Kerl gehalten. Jeden hätte ich schon längst gefeuert, wenn er einen ganzen Tag wegbleibt, selbst wenn er sich in der Saison krankmelden würde. Ich kann wegfallende Arbeitskräfte nicht gebrauchen. Aber dich nicht, nein, Ben, nicht dich. Weil du einfach ein Goldesel warst. Dich habe ich nicht gefeuert. Aber so kann ich dich hier nicht arbeiten lassen. Ich habe nicht mal wegen deiner langen Haare was gesagt, solange du sie ordentlich zurückgekämmt hast, aber das da“, er deutete auf Spades Gesicht, „ist einfach nicht tragbar. Mach, dass du wegkommst. Du bist gefeuert. Sieh zu, dass du nicht untergehst. Auch wenn du das mit dieser Fratze sowieso wirst.“ Er drehte sich zur Glastür und wandte sich von dieser Katastrophe ab.
„Hey“, rief Spade und diesmal lächelte er wirklich, aber es war nicht zu erkennen.
Herr Schmitt blieb stehen.
„Man kann Menschen nicht wie Uhrwerke aufziehen. Ich bin organisch. Und nicht die Summe meiner Teile.“
Herr Schmitt schaute nicht zurück, der Anblick war einfach zu erschreckend. Was für ein grauenerregender Falter aus seiner leuchtend grünen Raupe geworden war. „Traurigerweise nicht“, gab er zu.
Spade, nun arbeitslos, blieb nichts Besseres übrig, als in eine Bar zu gehen. Er folgte den Stufen hinunter in den Dachsbau, nahm die geflieste Treppe, die tief ins Innere der Erde führte oder wenigstens in die untersten Hautschichten der Erde, wie die Nadel eines Tätowierers. Er ging nach hinten in das Gewölbe der Kellerbar. Gleich am Eingang des länglichen Raumes stand die hell und warm beschienene Bar. An den Wänden hingen Nachdrucke von Francis Bacon und Fratzen von Marshall Arisman, Lichterketten und bunte Lichter. Die Bänke und Tische waren aus dickem, mit Lack bestrichenem Holz und links neben der Theke befand sich eine kleine Erhöhung mit einem Tisch, umschlossen von einer Holzbank. Dort konnte Spade bereits seine Truppe an Punks und Außenseitern sehen.
Sie waren alle Menschen, die sich ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt fühlten und ihre Gesichter auf eigene Faust entstellten. Da war der fast schon magnetische Tetsuo, nach dem Film Tetsuo: The Ironman benannt, mit der Fresse voller Piercings und Metall, sodass kaum Haut hindurchschaute. Dennis mit seinem aufgequollenen Gesicht, das er sich hatte blutig schlagen lassen. Die Lippen sahen aus wie violette Schlauchbote und die Augen waren fast zugeschwollen, das Gesicht voller blauer Flecke und Blutergüsse, als hätte er es unter einen Dampfhammer geschoben. Nicht zu vergessen Marc, dessen Gesicht uneben war, fast wie bei jemandem, dessen Haut allergisch auf Theaterschminke reagierte, der sie aber trotzdem trug. Es war angefressen und weiß vom Löschkalk, den er sich ins Gesicht geschmiert hatte. Und Harry Twoface, der eine Seite seines Gesichtes mit einem heißen Bügeleisen bearbeitet hatte. Stolz wie Bolle hatte er vom Gestank verbrannten Fleisches erzählt und dass seine geschmolzene Haut zischte und lange Fäden wie Pizzakäse vom Bügeleisen zog. Und da ein ganz neues Gesicht, das einer eleganten, schlanken Frau in Schwarz mit glatt am Kopf liegendem, rotblondem Haar, das kinnlang sein musste. Die schiefe Nase war spitz genauso wie ihr Lächeln, während Spades Quartett mit ihr redete und scherzte. Die langen Beine dunkel von Strapsen überschlagen und in hochhackigen Schuhen, saß sie da mit einer Zigarette in einem langen, schwarzen Halter, die andere Hand ruhte lässig auf dem Knie.
Spade machte einen Schritt die Stufe hoch und klopfte laut auf den Tisch: „Hey ho, mein hässlicher Haufen, unangepasst und eigenwillig, wie ich euch liebe.“
Erschrocken fuhren alle herum und starrten eine Weile in Spades Fratze. „Scheiße“, meinte Marc, „bist du das, Spade?“
„Kein Geringerer“, antwortete der zufrieden.
„Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?“, fragte Tetsuo, der die Lippen voller Metall kaum formen konnte und dessen Piercings scheppernd aneinanderstießen, wobei sie eine eigentümliche Melodie ergaben.
„Ich habe einen wahnsinnig genialen Gesichtschirurgen gefunden und der hat mir dieses extreme Lifting verpasst. Was haltet ihr von Spades schnuckeligem neuen Gesicht?“
Keiner konnte die Augen von ihm nehmen. „Spade, du sieht wie ein Haifisch aus, Mann“, fand Harry Twoface.
„Wo ist der? Wie heißt er?“, drängte Marc.
„Kennt ihr den kleinen asiatischen Gemischtwarenladen im Zentrum?“
„Von dem Chinesen mit der scharfen Tochter?“, fragte Harry.
„Genau der. Fragt nach Doktor Steinmann. Der macht das.“
„Wie