Peter-Erwin Jansen

Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen


Скачать книгу

Bestrebungen« aufgelöst wird. Marcuse betritt nie das im Juni 1924 eröffnete Institut an der Viktoria-Allee, das im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört wurde.

      Von Freiburg aus begibt sich der neue Mitarbeiter direkt an die Zweigstelle des Instituts nach Genf, wo er mit Erich Fromm und gelegentlich auch mit Leo Löwenthal, der seit 1926 Mitarbeiter am Institut war, bereits an den Studien über Autorität und Familie arbeitet4.

      Die Schweizer Behörden stellen Marcuse am 23. Juni ein Visum aus, das es ihm erlaubte, bis zum 1. Oktober 1933 in der Schweiz zu bleiben. Nach zahlreichen bürokratischen Hindernissen mit Schweizer, deutschen und französischen Behörden erhält Marcuse vom deutschen Konsulat in Zürich ein einjähriges Visum. Es ist an die Bedingung geknüpft, dass er bis zum 1. Januar 1934 Deutschland offiziell zu verlassen habe. Um den 20. Juni 1934 reist Marcuse in die Normandie, in die Hafenstadt Cherbourg. Am 28. Juni 1934 checkt er ohne Ehefrau Sophie und ohne Sohn Peter auf dem Passagierschiff Majestic ein, das ihn nach New York bringt.5 Der erste abgedruckte Brief Marcuses erreicht Löwenthal kurz vor dessen Abreise aus Frankfurt nach Bremerhaven. Von dort geht es nach Southampton und dann mit der Olympic weiter nach New York, die am 8. August 1934 die erste Station der Institutsmitarbeiter erreicht. Beide werden amerikanische Staatsbürger und folgen Berufungen auf Lehrstühle an dortige Universitäten. Eine Remigration in die alte Welt, zurück nach Deutschland, kommt für sie nicht mehr infrage.6 Aus den ersten distanzierten Begegnungen in Genf entsteht in dem von den Nationalsozialisten erzwungenen Exil eine lebenslange Freundschaft. Martin Jay verweist in seiner Einleitung auf die allgemeine Bedeutung des Freundschaftsnetzwerkes der Kritischen Theoretiker.

      Die Auswahl der abgedruckten Briefe beginnt mit dem ersten Brief Marcuses nach dessen Ankunft in New York und Löwenthals letztem Brief aus Deutschland. Kriterium für die Auswahl der Briefe sind bedeutende Veränderungen der Wohn- und Arbeitssituation, aber auch wichtige politische und private Ereignisse. Weitere Anlässe, sich postalisch auszutauschen, sind Marcuses Europareisen zwischen 1967 und 1974. Diese Aufenthalte werden in einigen der Schreiben angesprochen. Insgesamt umfasst die Korrespondenz der beiden Freunde circa 120 Briefe. Ein großer Teil davon bezieht sich auf Anfragen, wann und an welchem Ort wieder persönliche Treffen möglich sein werden. Als Marcuse im Alter von 66 Jahren 1964 eine Professur an der University of California in San Diego annimmt, mehren sich die persönlichen Begegnungen und Gespräche der beiden kritischen Theoretiker und ausführliche Briefe werden seltener. Einige der abgedruckten Korrespondenzen geben Auskunft über die mehrmaligen Treffen Marcuses in Löwenthals Wochenendhaus im Carmel Valley, die zum Teil zu Diskussionen über Buch- oder Aufsatzskripte genutzt wurden.

      Die hier zusätzlich versammelten Beiträge sind in den letzten zehn Jahren entstanden, einige von ihnen als Einzelaufsätze veröffentlicht. Teilweise liegen den Arbeiten Vorträge zugrunde, die bei Konferenzen der Internationalen Herbert Marcuse Society (IHMS) gehalten wurden. Andere Beiträge wurden im Rahmen von Einladungen verschiedener Institutionen wie Universitäten oder Museen verfasst. Sie folgen daher keiner stringenten Chronologie, sondern erschließen sowohl biografische als auch ideengeschichtliche Zugänge zu den in den Vereinigten Staaten gebliebenen Wissenschaftlern der Kritischen Theorie. Inhaltliche Überschneidungen sind dem Umstand geschuldet, dass unterschiedliche thematische Schwerpunkte in manchen Arbeiten ähnliche Kontextualisierungen erforderlich machten.

      Die Arbeiten sind von der Intention inspiriert, Dokumente der Archive von Herbert Marcuse und Leo Löwenthal einem größeren – sowohl akademischen als auch nicht akademischen – Publikum zugänglich zu machen. Darüber hinaus erweckten die vorgestellten Themen, Materialien und Briefe wissenschaftliche Neugierde, den einen oder anderen Aspekt tiefergehend zu erforschen. Das zeigen die zahlreichen Dissertationen, Studien und Bücher, die in der letzten Dekade im Zusammenhang mit den Archivalien aus den Archiven Marcuses und Löwenthals entstanden sind. Die Auswahl der schon erschienenen und erstmals gedruckten Texte, sowohl die des Herausgebers als auch die Beiträge Marcuses und Löwenthals, möchten mit diesem Band ein wenig das Nischendasein in diversen Zeitschriften verlassen. Bereits in Sammelbänden veröffentliche Texte wurden nicht aufgenommen. Erstmals sind Fotografien aus dem Privatalbum von Herbert Marcuse zu sehen.

      Die Anregung zu diesem Band verdankt sich unter anderem dem Zuspruch von Susanne Löwenthal sowie Peter und Harold Marcuse. Die seit über dreißig Jahre währende Freundschaft mit Susanne Löwenthal ist eine stete Herausforderung in einem sehr positiven Sinne und wird auch getragen von dem Geist, den Leo Löwenthal in seiner freundlich-warmen Art ausstrahlte. Peter und Harold Marcuse gilt mein Dank für ihr Vertrauen. Harold Marcuse danke ich für die freundschaftliche und intellektuelle Verbundenheit über Jahrzehnte hinweg. Martin Jay unterstützte dieses Vorhaben nicht nur mit der Einleitung zu diesem Band. Seinen Einladungen an die University of California in Berkeley und seine Beiträge zu Leo Löwenthal und der Kritischen Theorie insgesamt eröffneten mir stets neue Perspektiven und regten zum Weitermachen an. Hilfreich sind auch die intellektuellen Auseinandersetzungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus der IHMS. Charles Reitz und Douglas Kellner gilt in dieser Hinsicht mein besonderer Dank. Seit ihrer Gründung 2005 organisiert die IHMS alle zwei Jahre an Universitäten der USA und Kanada internationale Konferenzen. Über viele Jahre hinweg erfuhr ich darüber hinaus unkomplizierte und freundliche Unterstützung von Mathias Jehn, Oliver Kleppel und Stephen Roeper aus dem Archivzentrum der Universitätsbibliothek.

      1 Die in den Texten verwendeten geschlechtsspezifischen Bezeichnungen schließen prinzipiell alle unterschiedlichen Geschlechtszuschreibungen ein.

      2 Vgl. Jansen (1990), S. 141–150.

      3 Vgl. Adorno (1932/1989), S. 409.

      4 Horkheimer, Fromm u. a. (1936/2005).

      5 Vgl. Brief vom 7. Juli 1934.

      6 Vgl. Jansen (2009), S. 264–277.

      Lebenslange Freundschaft als Präfiguration der Utopie1

       Martin Jay

      Kaum jemand wird die ehrgeizigen Ziele der talentierten und heterodoxen Gruppe von in Deutschland geborenen, streitbaren Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts bezweifeln, die mit dem Institut für Sozialforschung, das später unter dem Namen Frankfurter Schule bekannt wurde, verbunden sind. Oft gemeinsam, manchmal aber auch alleine, widmeten sie sich den dringlichsten Problemen ihrer Zeit. Sie kombinierten Erkenntnisse aus vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und versuchten, ihre theoretischen Überlegungen durch innovative empirische Untersuchungen zu bereichern und zu überprüfen. Inspiriert von einer Vielzahl philosophischer Traditionen und Impulsen aus religiösen und ästhetischen Quellen, stellt ein bedeutendes Motiv ihrer moralischen Empörung das unnötige Leid und die Ungerechtigkeit der Welt, die sie umgab, dar. Das Spektrum ihrer Themen reichte von der Weltwirtschaft bis zur Krise der bürgerlichen Familie, von den hohen Künsten bis zur Populärkultur, vom autoritären Staat bis zur autoritären Persönlichkeit. Sie versuchten nicht nur, die Ära des Kapitalismus zu verstehen – sei es in seiner entstehenden, klassischen, monopolistischen oder staatlichen Phase –, sondern sie spekulierten auch kühn über den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte und erweiterten das Konzept der »Aufklärung« um die frühesten Bemühungen der Menschheit, eine feindliche Umwelt zu meistern und die Selbsterhaltung der Spezies und ihrer einzelnen Mitglieder sicherzustellen. Trotz des Misstrauens gegenüber der hegelianisch-marxistischen Kategorie der Totalität, die sich auf eine triumphale Metaerzählung der Menschheitsgeschichte als dialektischen Fortschritt in Richtung einer sozialistischen Zukunft stützte, verloren sie nie vollständig ihre ganzheitliche Perspektive. Auch die nachfolgenden Generationen der Kritischen Theorie waren überzeugt davon, dass grundlegende Fragen auch umfassende und tiefgreifende Antworten erforderten, die nur durch die Synthese und die gemeinschaftlichen Anstrengungen der kritischen Theoretiker geklärt werden konnten. Das zeigt sich noch in Jürgen Habermas’ bemerkenswertem, 1.700 Seiten umfassenden Abschiedsgeschenk Auch eine Geschichte der Philosophie2.

      Paradoxerweise konnten viele Intellektuelle der Frankfurter Schule die Hindernisse nicht ignorieren, die eine systematische Gesamtdarstellung ihrer theoretischen Erkenntnisse über eine Welt, die zunehmend undurchsichtig schien, verhinderten. Das taktische Mittel