Jana Pöchmann

Der letzte Funke Licht


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fiel mir auf, dass ich immer noch ziemlich gut zeichnen konnte. Sofort wollte ich das Bild an meine Wand hängen, brauchte aber dafür noch Reißzwecken. Mit viel Glück hatte Großmutter sogar welche für mich bereitgelegt. Sie hatte mir nämlich eine Kiste ins Zimmer gestellt, in der lauter neue Schulsachen, wie Hefte, Mappen oder Schreibutensilien waren.

      Ich stöberte kurz in der Kiste rum und BINGO, da war eine ganze Schachtel voller Reißzwecken. Also beeilte ich mich und hing mein Bild an die Wand.

      Da wir in weniger als fünf Minuten essen würden, beschloss ich, mich schon mal in die Küche zu begeben und meiner Großmutter noch bei den restlichen Essensvorbereitungen zu helfen. „Und, soll ich schon mal den Tisch decken oder eine Gurke schneiden?“, fragte ich meine Großmutter, die gerade Paprika wusch. „Ja, du kannst gerne schon mal eine Gurke schneiden. Sie liegt …“, weiter kam sie nicht, da ich ihren Satz zu Ende brachte, „… unten im Kühlschrank, ja Oma, ich weiß, ich wohne hier schon seit drei Monaten. Ich kenne mich hier aus.“ Meine Großmutter musste schmunzeln. „Ja, stimmt, ich vergesse immer wieder, dass du schon so lange bei mir wohnst. Die vergangenen drei Monate haben sich irgendwie wie drei Wochen angefühlt. Geht es dir auch so oder bin ich da die Einzige?“

      „Ja, das stimmt. Aber es waren schöne drei Monate, ich konnte dich kennenlernen, musste nicht zur Schule, konnte den ganzen Tag lesen und mit Sky telefonieren und konnte meinen kleinen Cassi kennenlernen.“ Bei seinem Namen musste ich lachen. Ich liebte es, ihn so zu nennen. „Du weißt genau, dass er es hasst, so von dir genannt zu werden, oder?“, fragte meine Großmutter mich, konnte ein Grinsen aber nicht unterdrücken. „Nein, seit wann hasst er denn seinen tollen Spitznamen?“, fragte ich ironisch. Plötzlich klingelte es an der Haustür und ich sagte nur: „Wenn man vom Teufel spricht. Ich geh schon.“

      Ich öffnete die Tür und davor stand er, der Grund, der mich vor drei Monaten endgültig überzeugt hatte, hierher zu ziehen. Mein kleiner Bruder Cassius, den ich natürlich immer Cass nannte. Obwohl, um ihn zu ärgern, nannte ich ihn „kleiner Cassi“. Ich kannte ihn zwar erst genauso lange wie meine Großmutter, nämlich seit drei Monaten, aber mit seiner ganz eigenen Art, konnte ich ihn innerhalb von ein paar Stunden schon in mein Herz schließen. Er ist erst acht Jahre alt und an dem Tag, als unsere Mutter von uns gegangen ist, kam er gerade vom Fußballtraining zurück. Meine Großmutter hat Cass einen Tag nach meinem Zusammenbruch alles erzählt. Alles über mich und dass unsere Mutter jetzt nicht mehr da sei. Er kannte unsere Mutter auch.

      Unsere Großmutter hat ihm immer von ihr erzählt und als meine Mutter ab und zu wegen ihrer „Arbeit“ wegfahren musste, ist sie immer zu Cass gefahren, hat ein Wochenende mit ihm verbracht. Meine Großmutter ist an solchen Wochenenden immer zum Wellness gefahren, da sie genau wusste, dass meine Mutter den Kontakt mit ihr für immer abgebrochen hatte.

      Cass ist aber genauer gesagt mein Halbbruder, da meine Mutter an einem Abend mal wieder einen Rückfall und viel zu viel getrunken hatte. Sie war an jenem Abend in einer Bar und dann ist es passiert. Mit einem Barkeeper. Danach musste sie für mehrere Monate zu einem „Arbeitsausflug nach New York - das hatte sie mir auf jeden Fall gesagt. So entstand Cass, der von meiner Großmutter aufgenommen wurde, nachdem meine Mutter widerwillig bei ihr angerufen hatte. Meine Großmutter dachte, ihre Tochter würde wieder Kontakt wollen und sie könnte mich endlich kennenlernen, aber meine Mutter wollte nur, dass meine Großmutter Cass zu sich nahm. Als sie dies getan hat, konnte meine Großmutter meine Mutter nie wiedersehen. Nur über Kurznachrichten hatten meine Mutter und sie sich immer wieder mal geschrieben, aber diese Nachrichten lauteten fast immer gleich: „Ich bin nächste Woche bei Cass … du hast ja bestimmt was vor.“

      Das machte meine Großmutter immer wieder sehr traurig, aber sie freute sich auch für Cass, dass er seine Mutter sehen konnte. Die ersten Tage nach deren Tod wollte ich meiner Großmutter das alles nicht glauben, aber nach und nach sah ich ein, dass meine Mutter nur mit mir alles geteilt hatte und nur mir gegenüber sie selbst sein konnte. Sie hatte nur mir vertraut, aber hatte trotzdem ein großes Geheimnis vor mir gehabt. Cass.

      Nachdem mein Vater sie verlassen hatte, konnte sie niemandem mehr vertrauen. Niemandem mehr. Aber obwohl Cass bis vor drei Monaten auch nichts von meiner Existenz wusste und eigentlich genauso in Vertrauensangelegenheiten war, wie ich und unsere Mutter und all das für ihn sehr schwer zu glauben war, kam er einen Tag nach dem Tod unserer Mutter von selber zu mir ins Zimmer und versuchte, auf seine eigene Art, mir zu helfen. Das hieß, er kam zu mir, kuschelte sich einfach neben mich ins Bett und erzählte mir von sich, von seinen Freunden und von unserer Mutter und unserer Großmutter.

      Cass lag bestimmt mehrere Stunden einfach neben mir und erzählte mir aus seinem Leben. Ihn störte es auch nicht, dass ich nicht antwortete. Nein, im Gegenteil. Er konnte nicht mehr aufhören zu erzählen.

      Es dauerte noch nicht mal einen Tag, bis ich ihm auch vertraute. Schon am nächsten Morgen schlich ich mich in Cass‘ Zimmer und erzählte ihm von mir. Ich konnte mich noch nie so schnell einem Menschen anvertrauen wie ihm. Er war der Grund, warum ich jetzt hier in Norddeich lebte und diese Entscheidung, hier zu wohnen, die richtige war.

      Cass umarmte mich, ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: „Hallo kleiner Cassi, wie war die Schule?“

      „Gut, wir schreiben in zwei Wochen Mathe, du musst mir bei dem Thema helfen“, antwortete er und ich nickte ihm zu. „Übrigens, nenn mich nicht immer so!“

      Diesen Kommentar quittierte ich mit einem Lächeln. Dann stürmte er in die Küche und fragte unsere Großmutter, was es zu essen gebe. Dieser kleine Rabauke wollte, im Gegensatz zu mir, eine Woche nach dem Tod unserer Mutter wieder direkt in die Schule gehen.

      Er wollte, dass ich auch in die Schule gehe, aber ich war noch nicht bereit dazu. Das war ich zwar jetzt immer noch nicht ganz, aber ich würde es morgen durchziehen. Ehe ich noch einen weiteren Gedanken an morgen verschwendete, ging ich auch in die Küche und aß mit meiner neuen kleinen Familie zusammen zu Mittag. Cass erzählte uns wieder, wie jeden Mittag, etwas über die Schule, schwärmte von einer Schulfreundin und regte sich über seine Lehrer auf.

      Den restlichen Tag lag ich in meinem Bett und las in meinem Buch. Am Abend spielten Cass und ich Karten und ich sagte ihm, dass ich Angst vor morgen hätte. Daraufhin sagte er: „Hey, Ave, du schaffst das. Wenn nicht du, wer dann? Du bist die beste Schwester der ganzen Welt und bestimmt auch die beste und coolste Schülerin. Das schaffst du. Ich hab dich lieb!“ Danach war ich so gerührt, dass ich ihn in eine lange Umarmung schloss. Ich gab ihm einen Kuss und wir wünschten uns Gute Nacht. Er war einfach der Beste und ich bin so dankbar, dass ich ihn als kleinen Bruder habe. Ich wüsste ganz ehrlich nicht, was ich ohne ihn tun sollte.

      Da ich am nächsten Morgen schon um sechs Uhr aufstehen musste, sagte ich meiner Großmutter noch schnell Gute Nacht und ging ins Bett.

      Kapitel 5

      Als ich um sechs Uhr von einem schrillen Piepen neben meinem Bett geweckt wurde, wollte ich es einfach nur abstellen und mich noch weitere fünf Stunden in mein Bett legen, so wie die letzten drei Wochen.

      Aber ich hatte heute meinen ersten Schultag in der neuen Schule und wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste hingehen, ob ich wollte oder nicht. Also stand ich widerwillig auf und zog mich an. Ich entschied mich heute für ein schlichtes weißes Champion T-Shirt, eine schwarze Hose und eine schwarze Lederjacke. Meine Haare trug ich offen und als Accessoire band ich eine Kette mit silbernen Engelsflügeln um, die mir meine Mutter zu meinem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Damals hatte sie gesagt, diese Kette würde mich immer beschützen und mir immer Glück bringen. Heute musste dies einfach stimmen, denn wenn ich gleich am ersten Tag negativ auffallen würde, wäre ich der Loser der Schule und darauf hatte ich wirklich keine Lust.

      Ich ging in die Küche und begrüßte meine Großmutter: „Morgen, wie lange bist du denn schon wach?“ Meine Großmutter antwortete mit einem Gähnen: „Ich stehe jeden Morgen um halb sechs auf, was du auch schon wissen würdest, wenn du nicht immer bis elf geschlafen hättest.“ Wie konnte sie immer nur so früh aufstehen? Menschen, die freiwillig so früh aufstanden, hatte ich noch nie verstanden.

      „Wo ist Cass? Soll ich ihn wecken?“, fragte ich sie