Hansjörg Nessensohn

Mut. Machen. Liebe


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Es war ein teurer Tag, aber jeder Pfennig hatte sich gelohnt, deswegen kam es auf die eine Mark auch nicht mehr an.

      Helmut schaute zu Marlene, winkte ihr verliebt zu und wollte schon seine Bestellung aufgeben, als er eine bekannte Stimme hörte.

       »El Mut! Retter! Endlich! Ciao, wie gehen dir?«

      Helmut hob langsam seinen Kopf und es war, als ob die Welt um ihn herum einstürzte. Diese Augen, dieses Lächeln, er starrte wie hypnotisiert auf Enzos Gesicht.

       »Bin jetzt Eismann. Gibt alles. Schoko, Vanille, Erdbeere …«

      Er hörte gar nicht richtig zu, weil er viel zu beschäftigt damit war, die Bilder unter Kontrolle zu halten, die in seinem Kopf durcheinanderwirbelten. Sie kamen doch normalerweise nur nachts. Und überhaupt hatte er sie doch schon längst überwunden.

      Ein Mann aus der Schlange beschwerte sich lautstark. Helmut musste sich zusammenreißen. Er versuchte so zu tun, als wäre nichts, und konzentrierte sich wie versteinert auf die Eisauslage.

       »Ich hätte gern fünf …«

      Es funktionierte nicht. Wie magnetisch angezogen schaute er wieder hoch. Enzo zwinkerte ihm mit einem Eisportionierer in der Hand zu, und in diesem Augenblick kapierte Helmut, dass es nicht nur seine Bilder waren, die seinen Kopf beinah zum Platzen brachten, sondern dass Enzo sie auch sah.

      Wortlos drehte er sich um und ging zitternd zurück zu den anderen.

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      »Schöne Scheiße.«

      Damit meine ich nicht die Geschichte von Helmut und Enzo, sondern Liz’ verdrehtes Knie, das uns seit ein paar Minuten am Weiterlaufen hindert.

      Wir wollten gerade los, als sie auf den glatten und glitschigen Ufersteinen ausrutschte, stolperte und beinah in den Bach stürzte. Zum Glück konnte ich sie noch festhalten.

      Leicht grün im Gesicht sitzt sie jetzt an ihren Rucksack gelehnt im Gras.

      »Das ist gleich wieder gut. Ich muss es nur kurz ruhig halten. Und kühlen.«

      Als ob. Wenn alte Menschen stolpern, ist es doch nie gleich wieder gut.

      »Das wird aber schon ganz dick.«

      Liz ignoriert meinen Kommentar, genauso wie sie wohl auch ihre Schmerzen ignoriert, und weil ich in meinem schweren Rucksack alles, aber keinen Kältespray dabeihabe, suche ich nach einem gebrauchten T-Shirt, um ihr mit dem kalten Bachwasser wenigstens einen kühlen Verband machen zu können.

      »Vielleicht hilft das ja.«

      Während ich diese provisorische Notversorgung durchführe, grübele ich, was ich denn jetzt tun soll. Unser eigentliches Vorhaben, dass nun jeder in seinem Tempo weitermarschiert, ist hinfällig. So viel steht fest. Ich kann Liz auf keinen Fall allein weitergehen lassen, weil ich mir ja noch nicht mal sicher bin, dass sie überhaupt weitergehen kann. Und wenn nicht? Ein Taxi findet man in dieser italienischen Abgeschiedenheit vermutlich noch schwerer als einen Orthopäden.

      »Denk gar nicht daran, einen Krankenwagen zu rufen.«

      »Hab ich doch gar nicht gesagt.«

      »Ich habe dir angesehen, was du gedacht hast.«

      Ich knote das nasse Shirt um ihr Knie und setze mich neben sie.

      »Das soll jetzt wirklich nicht unhöflich sein, aber in deinem Alter sollte das vielleicht echt mal von ’nem Profi untersucht werden.«

      »Das ist unhöflich.« Liz tut entrüstet, klopft danach aber zuversichtlich auf den Verband. »Du nimmst gleich dein Shirt und gehst weiter. Ich komm schon zurecht.«

      »Vergiss es. Ich lass dich hier sicher nicht allein sitzen.«

      »Dann stell ich dir so lange Fragen, bist du schreiend davonläufst.«

      »Versuch’s doch. Ich bin ziemlich gut im Weghören.«

      Ich halte Liz’ Blick stand, bis wir lachen müssen. Wahrscheinlich weil wir beide wissen, dass es nicht stimmt.

      »Sag aber hinterher nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«

      Ich nicke und ziehe mein Handy aus der Tasche. Irgendwie ist es an der Zeit für ein Selfie. Wahrscheinlich, weil wir zum ersten Mal so richtig zusammen gelacht haben, vielleicht aber auch, weil ich seit über einer Stunde nicht über meine eigenen Themen nachgedacht habe. Rekord.

      Ich lege meinen Arm um Liz’ Schultern, presse meine Zungenspitze zwischen die Schneidezähne, weil ich das immer mache, um auf unnatürlichen Fotos natürlich zu wirken, und drücke den Auslöser.

      Das Foto sieht fröhlich aus, zumindest ist das mein Eindruck. Blöderweise nur meiner.

      »Bist du glücklich?«

      »Oh Mann«, stöhne ich und vergrößere das Foto auf dem Display.

      »Frag mich doch so Sachen, wie meine Eltern heißen zum Beispiel. Oder wie mein Abischnitt war.«

      Liz spielt ein Gähnen vor. »Mich interessiert aber mehr, warum deine schönen grauen Augen nicht so lachen, wie sie für jemand in deinem Alter lachen sollten.«

      Verärgert stecke ich mein Handy wieder weg. Ich ahne, was sie meint. Nicht mal meine Zungenakrobatik kann darüber hinwegtäuschen, dass ich fröhlich aussehend traurig wirke. Verdammt.

      »Augen sind der Spiegel der Seele.«

      »Ja, danke. Reicht jetzt.«

      Das war das erste und letzte gemeinsame Foto.

      Liz versucht, ihr Knie zu beugen und zu strecken und macht den T-Shirt-Verband ab.

      »Die Kälte hat gutgetan. Sollen wir los?«

      »Wenn’s geht.«

      Ich mache das Shirt noch mal nass, helfe Liz bei ihrem professionell gepackten 7-Kilo-Rucksack und schultere dann meinen. Froh darüber, dass sie nicht länger auf meinem angeblich trüben Seelenspiegel rumhackt.

      »Tut mir leid, dass ich deinen nicht auch tragen kann. Geht’s wirklich?«

      Sie nickt, hakt sich bei mir unter und zieht nur beim ersten Schritt die Luft durch die Zähne.

      »Ja, wirklich.«

      Die ersten Meter sind wackelig, auch weil wir uns erst aneinander gewöhnen und einen gemeinsamen Rhythmus finden müssen. Doch Schritt für Schritt wird es harmonischer. Nur meine Befürchtung bleibt, dass wir in diesem Tempo niemals unser heutiges Etappenziel erreichen werden.

      4.

      15:37

      Hey Paul, nein, vermutlich kennst du mich auch nicht mehr richtig.

      Wäre nach vier Jahren auch verrückt.

      Aber irgendwie glaube ich, dass ich im Kern noch der Alte von damals bin.

      Also dein bester Freund, in den du dich mal verliebt hast.

      Gesülze. Sorry. J

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      »Ich hab keinen Grund, nicht glücklich zu sein.« Das, was Liz vorhin am Bach gesagt hat, lässt mir einfach keine Ruhe.

      »Also keinen offensichtlichen Grund«, füge ich unnötigerweise noch hinzu.

      Liz wackelt neben mir her, mittlerweile ohne meine Unterstützung, und sagt erstmal nichts dazu. Sie scheint sich ganz auf ihre Schritte zu konzentrieren. Vor eineinhalb Stunden waren wir durch ein kleines Dorf gekommen, wo ich sie noch mal dazu gedrängt habe, nach einem Arzt zu fragen. Doch davon wollte sie natürlich nichts wissen. Mit der Großeltern-Weisheit ›Bewegung ist die beste Medizin‹ quatschte sie mich zu und ich habe mich