gesehen oder etwas Ungewöhnliches beobachtet. Ähnlich ist es im Fall von Walter Köhler. Wir haben Dutzende von Mitarbeitern des Krankenhauses befragt. Außer dem Patienten, der in Köhlers Zimmer lag, gibt es keine weiteren Zeugen.“
Winkels war enttäuscht. Denn Holger Bartels war nach seiner ersten Einschätzung sein Verdächtiger Nummer eins.
„Dann haben wir noch die beiden Söhne von Karl Ahlsen. Thorsten ist anscheinend im Urlaub. Eine Zeugin hat ihn mit Gepäck wegfahren sehen. Er ist bisher nicht wieder aufgetaucht.“
„Das überprüfen wir“, warf Dröver ein.
„Rolf Ahlsen ist für mich ein echter Verdächtiger. Er hat eine Freundin, die im Gegensatz zu ihm auskunftsfreudiger war. Ich kann es nicht beweisen, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir in seinem Fall näher hinsehen sollten. Martha Weber, die dritte der Überlebenden, hat keine Kinder, soweit ich weiß.“
„Das ist richtig.“ Dröver schob seinen leer gegessenen Teller beiseite. „Sie lebt mit ihrem Ehemann zusammen, der seit Jahren im Rollstuhl sitzt. In ihrem Fall sehen wir nicht den geringsten Verdachtsmoment, zumal sie nach ihrer Aussage einen Teil Ihres Erbes dem Seniorenheim vermacht.“
Winkels richtete sich auf. „Gibt es in der Beziehung womöglich einen Verdacht?“
Dröver winkte ab. „Unwahrscheinlich. Das Heim gehört einer Stiftung. Da hätte niemand einen persönlichen Vorteil.“
„Na, schön. Dann sehen wir uns in Anbetracht der Summe auch die Erben der bereits Verstorbenen an. Papendiecks Sohn Werner hat sich beim Notar furchtbar darüber aufgeregt, dass er nur den Pflichtteil bekommt. Walter Köhlers Sohn und seine Familie schienen dagegen sehr zufrieden mit ihrem Erbe zu sein. Allerdings wussten wohl beide nichts vom Umfang der Erbschaft.“
„Und die Bräker?“
„Erna Bräkers Tochter und Enkel halte ich nicht für verdächtig. Ich glaube, ich habe im Lauf meiner Karriere viele Erfahrungen gesammelt, was Verdächtige angeht, und meiner Meinung nach gehören die beiden nicht zu diesem Kreis.“
„Wir sind also nicht wirklich schlauer nach all diesen Erbschaftsgeschichten“, stellte Dröver fest.
„Einen Punkt möchte ich noch zu bedenken geben.“ Tjade Winkels hatte die Hartnäckigkeit eines Ermittlers im Blut, und er hörte ungern auf, ehe er nicht alles ausgelotet hatte.
„Wir gehen davon aus, dass die drei Überlebenden, wenn wir sie so nennen wollen, jetzt nicht mehr gefährdet sind, weil der Mörder unserer Ansicht nach sein Ziel erreicht hat, und es keinen Sinn für ihn hätte, eine weitere Person dieser Gruppe zu töten. Was aber, wenn wir uns irren? Wenn der Täter falsche Spuren legen will, oder wenn es doch ein Wahnsinniger ist, der Rentner umbringt?“
Dröver grinste. „Du wirst es nicht glauben, doch daran habe ich bereits gedacht. Ich habe einen meiner jungen Leute als Hilfskraft im Heim eingeschleust, natürlich mit Wissen der Heimleitung. Er wird ein Auge auf die möglichen Opfer haben. In seiner Funktion kann er sich frei bewegen, und er wird niemanden auffallen. Er hat sich die Fotos von allen Beteiligten eingeprägt, die wir uns besorgt haben.“
„Dann habe ich noch eine letzte Frage“, sagte Winkels nach kurzer Überlegung.
„Und welche?“
„Wenn ihr Fotos von allen Beteiligten habt, würde ich gern bei dem einen oder anderen nachfragen, ob nicht doch jemand eine Person gesehen hat, die irgendwie aufgefallen ist. Vielleicht erkennt jemand vom Personal im Krankenhaus oder im Seniorenheim eines der Gesichter wieder. Es ist zwar nur eine kleine Chance und bedeutet viel Lauferei, doch das gehört nun mal zu unserer Arbeit wie das Aktenstudium.“
Dröver erhob sich. „Komm mit nach unten. Wir haben die Fotos, die du brauchst, auf dem Computer. Ich kann sie dir auf dein Smartphone kopieren. Sie stammen vom Einwohnermeldeamt oder von der Führerscheinstelle. Manche der Passfotos sehen den realen Personen jedoch nur entfernt ähnlich.“
„Ich weiß, doch ich versuche es trotzdem.“
*
Nichts im Seniorenheim Waldfrieden verriet, dass hier ein Mord stattgefunden hatte. Das freundliche Sommerwetter tat ein Übriges, um die furchtbare Erinnerung an den tödlichen Sturz von Erna Bräker vergessen zu lassen.
Tjade Winkels durchquerte das Foyer. Am Empfang war auch diesmal niemand zu sehen. Auf dem Grundstück hinter dem Gebäude saßen vereinzelt ältere Herrschaften auf Gartenmöbeln, genossen die Sonne oder unterhielten sich mit anderen Bewohnern. Tjade hatte sich erinnert, dass Heinz Bartels und Karl Ahlsen im Erdgeschoss wohnten. Das waren die Zimmer mit der Terrasse, die voneinander durch einen Sichtschutz getrennt waren.
Er hoffte, sie hier möglichst unauffällig aufsuchen zu können, ohne dem getarnten Kripobeamten aufzufallen, der ihn möglichweise für einen Verdächtigen halten würde.
Er ließ seinen Blick über die offenen Terrassen schweifen. Einige waren unbesetzt, in anderen waren Frauen zu sehen, doch dann…
Sein Blick saugte sich förmlich fest an den beiden älteren Herren, die an einem runden Gartentisch saßen und die Köpfe zusammensteckten, als ob sie ein Gespräch führten, das niemand belauschen sollte.
Entschlossen überwand er die Strecke zu der Terrasse, nur zwei Zimmer entfernt von der Stelle, an der Erna Bräker zu Tode gekommen war.
Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn nicht kommen sahen.
„Herr Bartels!“ rief Winkels auf gut Glück.
Einer der beiden hob irritiert den Kopf. Ein scharfer Blick aus blauen Augen traf den ehemaligen Hauptkommissar. Sie saßen in einem faltigen Gesicht zwischen einer breiten Nase und einer hohen Stirn unter strubbeligem weißem Haar. Der Mann war bestimmt schon deutlich über achtzig, hielt sich aber sehr aufrecht. Trotz der Wärme trug er eine graue Strickjacke, die aussah, als würde er sie schon sehr lange besitzen.
Der zweite Mann war etwas im gleichen Alter, wirkte aber gebrechlicher. Neben seinem Stuhl lehnte ein Gehstock am Tisch.
„Und Sie müssen Karl Ahlsen sein.“
Die beiden warfen sich einen raschen Blick zu.
„Polizei?“ fragte Bartels.
„Könnte man so sagen.“
„Was wollen Sie noch? Wir haben doch schon mit einem Ihrer Leute gesprochen und alles erzählt, was wir wissen.“
Tjade Winkels konzentrierte sich auf Heinz Bartels. Er schien hier der Wortführer zu sein.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Wenn´s sein muss…“
Winkels griff sich einen der freien Stühle, auch wenn er offensichtlich nicht besonders willkommen war. Er hatte sich schon lange ein dickes Fell zugelegt.
„Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie einen Verdacht haben, wer Ihre Freude umgebracht haben könnte. Man denkt doch darüber nach.“
Die beiden sahen sich wieder an. Falls sie zum alten Menschenschlag in diesem Landstrich gehörten, war übertriebene Mitteilsamkeit keine ihrer bevorzugten Eigenschaften, das wusste Winkels sehr gut.
„Jemand kann nicht warten“, bequemte sich Ahlsen schließlich zu einer Aussage.
„Sie meinen, auf das Erbe?“
Beide nickten wortlos.
„Und wer könnte das sein?“
Gemeinsames Schulterzucken. Hier würde er nichts erfahren. Vielleicht hatten die alten Herren durchaus eine Ahnung, doch möglicherweise betraf es ihre eigenen Nachkommen, und das wollten sie lieber für sich behalten.
Tjade Winkels verabschiedete sich, was mit einem kommentarlosen Nicken beantwortet wurde.
Er ging durch das Foyer zurück.