Dagmar Hager

Schöner sterben in Wien


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ein letztes Mal. Wieder ohne Erfolg. Dann hatte sie genug. Sie rief ein elektronisches Telefonbuch auf und startete die Rückwärtssuche, indem sie die Telefonnummer in das entsprechende Feld eingab.

      Sekunden später leuchtete eine Adresse auf.

      Zufrieden lächelnd lehnte Marlena sich zurück, musterte gierig den Teller, den die Bedienung soeben vor sie hinstellte, und schmiedete einen Plan.

      0043 – die Vorwahl für Österreich – hatte sie im Krankenhaus stutzig gemacht. Das Gespräch vorhin hatte sie auf Deutsch geführt und diese Adresse bestätigte es. Sie musste über die Grenze. Wenn auch – laut Google Maps – nur ein paar Meter.

      Sie schaffte die knapp 30 Kilometer mit dem Auto in genau 28 Minuten. Der Grenzort hieß Wullowitz. Genau einer der 85 Einwohner interessierte Marlena ganz besonders.

      Das Navi dirigierte sie zu einer schmalen, hügeligen Straße, die nach etwa anderthalb Kilometern am Waldrand endete, direkt an einem einsam stehenden kleinen Haus mit steilem Dach, dessen Jalousien geschlossen waren. Der große, sorgsam eingezäunte Garten wucherte üppig und war sehr gepflegt. Auf den ersten Blick erkannte Marlena Tomatenstauden, einige Hochbeete, Bohnenranken, ein Feigenbäumchen und etwas weiter hinten Obstbäume. Neben dem Eingang parkte ein winziges rotes Auto von der Sorte, die man ohne Führerschein fahren durfte.

      Marlena war nicht besonders ängstlich, umso mehr, da sie einige verschiedenfarbige Gürtel in Karate und eine Ausbildung zur Personenschützerin besaß. Dennoch konnte ein wenig Vorsicht nicht schaden. Zugunsten der Bewegungsfreiheit hatte sie vorhin das schwarze Trauerkleid vom Krankenhaus gegen einen blauen Trainingsanzug getauscht und sich eine Mütze aufgesetzt.

      Langsam stieg sie aus. Das Grundstück wirkte verlassen.

      Neben der braunen Eingangstür war eine Klingel ohne Namen angebracht. Sie drückte auf den Knopf, doch es blieb still. Ohne Scheu klopfte sie mehrmals gegen das Holz. Vorsichtshalber hatte sie eine Dose Pfefferspray eingesteckt und tastete unwillkürlich danach, als nach einer gefühlten Ewigkeit schwere Schritte ertönten. Dann wurde die Tür einen Spaltbreit aufgezogen.

      Marlena sah sich einem untersetzten Mann in einem sauberen weißen Unterhemd, kurzen Hosen und Plastikhausschuhen gegenüber. Seine wässrigen Augen und die vielen geplatzten Äderchen um die Nase erzählten eine lange Geschichte von Alkoholmissbrauch.

      »Was ist?«

      Dass Unhöflichkeit ihr gleichgültig war, konnte er nicht wissen. Freundlich legte sie los. »Guten Tag. Mein Name ist Marlena Houdek. Darf ich mich bitte kurz mit Ihnen unterhalten, Herr Jelinek? Ich bin extra aus Wien hierhergekommen.«

      Für einen kurzen Moment flackerten seine Augen. Misstrauen mischte sich mit einem Ausdruck von Unwillen. »Kommt nicht infrage. Verschwinden Sie!«

      Marlena ging nicht darauf ein. »Bitte! Es ist wirklich wichtig! Sie sind der Einzige, der mir helfen kann. Lassen Sie mich doch nicht so stehen! Ich brauche nur fünf Minuten, dann bin ich weg, versprochen!«

      Nach wie vor war der Mann die personifizierte Grobheit. »Sie wissen offenbar, wer ich bin. Trotzdem gibt es nichts, was ich Ihnen sagen könnte.«

      Die Unsicherheit hinter den abweisenden Worten war Marlena nicht entgangen. »Es geht um Ihre Tochter. Jelena.«

      Seine Miene verschattete sich. »Jelena?«

      Unschlüssig zog er die Tür ein wenig weiter auf. Darauf hatte Marlena gewartet. Mit einem erleichterten »Ich danke Ihnen so sehr!« ließ sie ihm keine Chance auf weitere Gegenwehr, drängte ihn zur Seite und fand sich in einem dunklen Flur wieder. An einem Haken hing eine verschlissene Jacke mit dem Logo einer Biermarke, darunter standen zwei Paar klobige, aber saubere Schuhe.

      Überrumpeltes Gebrabbel in ihrem Rücken. Zu spät, mein Lieber, dachte sie und überprüfte schnell die Umgebung. Rechts verhängte ein bunter Vorhang mit Plastikperlen den Zugang zu einer Küche. Drei geschlossene Türen gingen vom Gang ab, eine weitere stand offen.

      Ihr unfreiwilliger Gastgeber hatte sie inzwischen eingeholt und musterte sie mit verschränkten Armen von oben bis unten. »Sie sind ganz schön frech, Mädchen. Eigentlich müsste ich Sie sofort wieder hinauswerfen. Aber Sie haben einen weiten Weg hinter sich, also hier entlang!«

      Zwei Meter weiter fand Marlena sich in einem perfekt zusammengeräumten Wohnzimmer wieder und nahm auf einem grünen Sofa Platz, das mit einer durchsichtigen Plastikfolie abgedeckt war. Die Wohnung wirkte kahl. Der Mann schien keinen Wert auf Bilder, Pflanzen oder Dekoration zu legen. Genauso wenig wie auf Teppiche oder Vorhänge. So hatte sie ungehinderte Aussicht auf rissiges, braunes Linoleum am Boden und vergilbte Wände.

      »Also, was ist Sache?« Ein weiterer indifferenter Blick traf Marlena. Ihr Gastgeber blieb stehen und bot ihr auch nichts zu trinken an.

      Ohnehin besser. »Nun, wie gesagt, ich bin auf der Suche nach Ihrer Tochter Jelena, Herr Jelinek, und ich hoffe inständig, dass Sie mir weiterhelfen können.«

      Der Alte stemmte die Hände in die Hüften. »Was wollen Sie denn von ihr?«

      Es war Zeit, ihm die Geschichte aufzutischen, die sie sich auf der Fahrt hierher zusammengeschustert hatte. »Jelena und ich waren Kolleginnen im Krankenhaus in Krumau, hatten oft zusammen Dienst. Vor ein paar Monaten fand ich sie weinend auf der Toilette. Sie meinte: ›Es kann sein, dass ich über kurz oder lang verschwinden muss. Wenn du mich finden willst, geh zu meinem Vater!‹ Sie gab mir Ihre Adresse. Dann bin ich nach Wien gezogen. Dieses Wochenende war ich zum ersten Mal wieder in Krumau und wollte sie besuchen. Doch sie ist verschwunden, niemand weiß, wohin. Jetzt mache ich mir natürlich Gedanken, tue, was sie gesagt hat, und bin bei Ihnen gelandet!«

      Ob sie damit punkten konnte? Nur der rasselnde Atem des Alten durchbrach das tiefe Schweigen. Es hörte sich nach einem gravierenden Problem mit der Lunge an. Nicht nur seine Leber war bedient.

      »Jelena ist nicht hier!«

      Marlena erschrak über die energische Antwort. »Aber geht es ihr gut? Ich bin wirklich besorgt.«

      »Müssen Sie nicht!« Es war ihm herausgerutscht. Grantiges Luftschnappen ging in einen massiven Hustenanfall über.

      »Sie wissen also, wo sie ist?«, forschte Marlena nach, als er sich wieder beruhigt hatte.

      Der alte Mann schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Sie hat mich allein gelassen …«

      Er brach ab. Bei den letzten Worten hatte seine Stimme gezittert. Vor Marlena stand ein Verzweifelter, dem offenbar vom Leben nicht mehr geblieben war als Alkohol, ein winziges Auto, ein leeres Haus und jede Menge Verbitterung.

      »Das tut mir leid«, hörte sie sich sagen.

      Sein Blick war verhangen. »Mit meinen Töchtern hatte ich nichts als Pech. Die eine war eine … ach Scheiß drauf. Und die andere ist ohne richtige Erklärung abgehauen. Alles, was ich bekomme, ist hin und wieder eine Postkarte mit: Hallo, Táta, es geht mir gut!«

      Marlena horchte auf. »Postkarten?«

      Statt einer Antwort deutete der Mann auf einen kleinen Stapel Papier, der auf einer abgenutzten Kommode lag. »Aber was soll’s. Sie hat mich verlassen. Wie ihre verschissene Mutter und ihre Schwester. Zum Teufel mit den Weibern. Haben mich immer nur ausgenutzt. Ich dachte mal, Jelena wäre anders. Alles Schmarrn. Ich bin ihr gleichgültig. Also ist es auch umgekehrt so.«

      »Wirklich?«

      Er nickte, doch Marlena entging das kleine Zögern nicht. Natürlich hatte er Sehnsucht nach seiner Tochter, war aber wohl zu stolz und verletzt, das zuzugeben.

      »Hatte sie vielleicht Freundinnen, irgendjemanden, der mehr wissen könnte?«

      Der Alte verneinte. »Der einzige Mensch, mit dem sie sich immer prächtig verstanden hat, war ihre jüngere Schwester. Doch die ist tot und begraben. Und jetzt gehen Sie bitte. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

      Marlena stand auf. »Danke vielmals, Herr Jelinek. Ich werde Sie nicht weiter stören.«

      Sein Unterkiefer mahlte.