Jakob Matthiessen

Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein


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Lappen in seinem Mund schmeckte fischig. Mit Mühe konnte er dem Würgereiz widerstehen, den der Knebel in ihm auslöste. Der Strick schnitt sich tief in seine Handgelenke, die man ihm hinter dem Rücken zusammengebunden hatte. Seine Finger waren inzwischen taub.

      Rabbi Chaim stand in einer langen Reihe vor dem Altarkreuz. Diejenigen, die es noch in die Bischofspfalz geschafft und am heutigen Tag nicht den Tod gefunden hatten, warteten auf das nun Unvermeidliche.

      Chaim wandte sich um. Dies war also der Rest seiner einst so blühenden Gemeinde. Die meisten der Seinen senkten die Köpfe voller Scham, vereinzelt gewahrte Chaim Blicke des Vorwurfs. Rachel, ihr blitzte der Zorn aus den Augen. Sie war bereit gewesen zum Kiddusch ha-Schem, dem höchsten Opfer zur Heiligung Seines Namens.

      Chaim war es nur recht, dass auch ihr der Mund verschlossen war. Er wollte Rachels Beschimpfungen jetzt nicht hören, dafür war später Zeit genug. Aber viele in seiner Gemeinde empfanden Erleichterung. Das hatte er gespürt, selbst wenn die Wenigsten dies zugeben würden. Darauf ließe sich aufbauen. Darauf setzte Chaim all seine Hoffnung.

      Er rieb seine gebundenen Hände gegeneinander, damit er sie wieder spüren konnte. Sie blieben jedoch taub. Chaim drehte seinen Kopf nach rechts. Jehudith hockte mit ein paar der Ihren gefesselt an der Wand unter dem Kreuz mit dem Gehängten. Ihr sonst so schönes, lockiges Haar war strähnig und zerzaust. Aber in ihrem Blick fühlte er auch jetzt die Wärme, die ihm in den letzten Tagen Kraft gegeben hatte.

      Ach, Jehudith, meine geliebte Rose von Scharon. Du hast den schweren Gang schon hinter dir.

      Chaim schloss die Augen. Nun war es an ihm.

      Zwei Wachen zerrten ihn nach vorn. Die Beine drohten, ihm zu versagen, aber die beiden Hünen, die ihn fest unter den Armen packten, gaben Chaim Halt. Er spürte eine weite, schwammige Leere. Wie aus großer Ferne vernahm er die sanfte Stimme seines Freundes Raimund. »Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater?«

      Chaim wollte den Kopf schütteln, mit dem bisschen Kraft, das noch in ihm war. Doch zwei Hände pressten sich gegen seine Ohren und Wangen. Dann wollte er sein Haupt eben gar nicht bewegen. Schließlich musste er sich dem Druck fügen, der seinen Kopf einmal nach oben und nach unten führte.

      Warum auch nicht? Er glaubte an den allmächtigen Vater. Alle Juden glaubten daran.

      »Glaubst du an Christus, Gottes Sohn?« Raimunds Frage erscholl in der Weite des Raumes in ungewohnter Fülle. Doch war da dieses schwache Zittern, das sich immer dann in die Rede seines Freundes einschlich, wenn dieser seinen Worten selbst nicht trauen mochte.

      Was habt ihr Christen aus dem Nazarener gemacht? Einen Gott! Einen Gott, der gekreuzigt wurde!

      Selbst über solch heikle Themen hatte er mit Raimund sprechen können. Zwischen den Reben auf den Hügeln am Ufer des Rheins waren sie umhergegangen. Und in den Stunden des hitzigen Disputs verriet jenes leise Zittern die Zweifel seines Freundes, der sonst seine Worte so geschickt zu setzen wusste.

      Chaim machte sich ganz steif. Aber die zwei Pranken, die sich wie die zwei Backen eines Schraubstocks in seine Schläfen pressten, waren stärker als das, was von seinem Willen nach all den Strapazen übrig geblieben war. Sie zwangen ihn erneut zu einem Nicken.

      »Glaubst du an den Heiligen Geist?«

      Der Ewige ist eins, nicht drei! Moses und die Propheten sagen es immer wieder. Der Ewige ist nicht teilbar, er ist eins!

      Aber Chaims Aufbäumen war nicht mehr als der Flügelschlag eines Spatzen, schon ließ er seinen Kopf bereitwillig führen.

      Mit einem Ruck wurde er nach unten gebeugt. Er öffnete die Augen.

      Sein Spiegelbild starrte ihn aus dem Wasser des runden Beckens an. All die Zweifel hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

      Würde er je vor dem Gericht des Herrn bestehen können? Er selbst war es ja gewesen, der dies alles von Raimund verlangt hatte. Nicht nur für sich selbst. Und nicht nur für Jehudith und seinen Sohn David. Für den ganzen Rest der Gemeinde hatte er gesprochen.

      War es Weisheit? War es Torheit? Oder war es nur die schäbige Angst um sein kleines bisschen Leben? Würde er all dies seinem Schöpfer erklären können?

      Chaim, du Dummkopf. Der Ewige braucht keine Erklärungen, der Ewige weiß.

      Tropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Der Schweiß kroch in sein rechtes Auge, rann quälend langsam den Nasenflügel hinunter und tropfte in das Becken. Das Angesicht, auf das er schaute, verschwamm in der Unruhe der Wasserfläche.

      Raimunds Stimme besiegelte den Frevel. »So taufe ich dich im Namen des Vaters.«

      Die Hände pressten seinen Kopf in das Becken. Chaim hielt den Atem an. Das Wasser war angenehm warm. Und noch während er sich über seine Erleichterung darüber wunderte, wurde er wieder nach oben gerissen.

      Er wollte einen tiefen Atemzug nehmen.

      »Im Namen des Sohnes.«

      Sein Haupt wurde nochmals in den Bottich getaucht. Chaim verschluckte sich am Wasser, das an dem Knebel vorbeirann.

      Endlich erlaubten ihm die fremden Hände, nach Luft zu schnappen. »Und im Namen des Heiligen Geistes«, hörte er Raimund wie durch eine Blase verkünden.

      Da war sein Kopf ein weiteres Mal unter Wasser, und Chaim prustete hilflos in das Becken.

      Die Hände rissen ihn hoch, diesmal so, dass er aufgerichtet dastand. Röchelnd schaute Chaim in das Gesicht seines Freundes.

      Raimund blickte zur Seite, als wolle er Trauer und Scham verbergen.

      Die Hände lösten sich von Chaims tropfnassen Wangen, dann schleifte man ihn weg.

      Er hatte es so erwartet, doch war da ein Rest Furcht in ihm gewesen. Aber weder hatte das Wasser seine Haut verbrannt noch hatte ein Blitz vom Himmel sein Herz zerfetzt.

      Und es roch genau so, wie Wasser riechen sollte: nach nichts.

      Zitat

      Einst die Herren,

      werden sie jetzt in fremden Landen gedrückt durch Knechtschaft

      und durch das Joch, das man ihnen aufgelegt.

      Selichah – Kalonymos ben Jehuda

      Teil I: Schatten aus dem Süden

      Freitag, der 23. Mai Anno Domini 1096 / 28. Ijjar 4856

      Mainz – auf dem Synagogenplatz

      »Gebt gut acht auf den Ring«, sagte Chaim beim Abschied. Der Rabbi hatte den goldenen Trauring, der schon seit Generationen im Besitz der Gemeinde war, zur Familie des Bräutigams gebracht. Dabei hatten sie die letzten Einzelheiten der Hochzeit besprochen. Und Chaim hatte sich überreden lassen, am Mitzwah-Tanz teilzunehmen, dem letzten Teil der Zeremonie, bevor Braut und Bräutigam endlich eine Weile allein in einem Zimmer verweilen durften.

      Er trat aus der Tür und blickte auf den kleinen Platz. Die Sonne stand hoch am Mittagshimmel, die Häuser aus dunklem Holz und Lehm, die ihre Synagoge umschlossen, warfen wohltuende Schatten. Eng zusammengerückt standen sie da, als würden sie das große Steinhaus in ihrer Mitte beschützen wollen. Drei große bogenförmige Öffnungen fanden sich unterhalb des Giebels, das darüberliegende runde Rosenfenster mit dem rötlich schimmernden Glas kam aus Chaims Werkstatt. Erst vor einigen Jahren war ihnen der Bau ihres Bethauses gestattet worden. Jedoch nur unter der Bedingung, dass es nicht direkt an der Straße läge, sondern versteckt in einem Innenhof.

      Haus der Beschnittenen wurde ihre Synagoge seitdem von den wohlwollenden Christen genannt. Brutstätte des Teufels war eine andere Bezeichnung, die auch jeder in der Stadt verstand.

      Chaim hatte sich gerade dem hohen Eingang ihres Gotteshauses mit den drei breiten Treppenstufen zugewandt, da kam ein Junge aus dem Torbogen zur Lorscher Gasse gerannt. Ein etwas jüngeres Kind folgte dem Buben mit ein paar Schritten Abstand.

      »Isaak, ich