Mijna Hadders-Algra

SINDA - Standardized Infant NeuroDevelopmental Assessment


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Physio-, Ergo- und Sprachtherapeuten. SINDA ermöglicht es den Fachpersonen, den aktuellen entwicklungsneurologischen Befund zu bestimmen und gibt Informationen zum Risiko des Kindes für spätere Entwicklungsstörungen und neurologische Erkrankungen wie Cerebralparese, Intelligenzminderung oder Verhaltensstörungen (Hadders-Algra et al. 2019, 2020).

      SINDA besteht aus drei Skalen:

      • Die Neurologische Skala besteht aus 28 Items, die für den gesamten Altersbereich von sechs Wochen bis zwölf Monaten KA gelten und in jedem Lebensalter identisch formuliert sind. Ein Schwerpunkt liegt auf der Beurteilung der Qualität der spontanen Bewegungen. Die Durchführungszeit beträgt etwa zehn Minuten.

      • Die Entwicklungs-Skala besteht aus 15 Items für das korrigierte Alter des jeweiligen Kindes; für den gesamten Altersbereich gibt es 113 Items. Sie umfassen die Bereiche Kognition, Kommunikation, Grob- und Feinmotorik. Die Durchführungszeit ist abhängig vom Alter des Säuglings; sie beträgt etwa 5–7 Minuten für die jüngste und 10–15 Minuten für die älteste Altersgruppe.

      • Die Sozioemotionale Skala beurteilt vier Verhaltenskategorien: Interaktion, Emotionalität, Selbstregulation und Reaktivität. Die Items sind für den gesamten Altersbereich identisch. Sie werden während der Durchführung der Entwicklungs-Skala mitbeurteilt, sodass keine zusätzliche Zeit nötig ist.

      SINDA kann in jeder (geeigneten) Umgebung durchgeführt werden. Man braucht nur einfache Materialien: eine Untersuchungsmatratze (-liege) und ein paar attraktive Objekte, die in jeder Spielzeugabteilung erhältlich sind, wie eine kleine Micky Maus Figur, eine Rassel und einen Ball.

      1.2 Warum SINDA?

      SINDA wurde entwickelt, da es bislang kein kurzes und präzises Verfahren gab, das den neurologischen Status, den Entwicklungsstand und den sozioemotionalen Befund des Säuglings beurteilt. Es gibt zwar Verfahren, die jeweils einzelne Domänen berücksichtigen. So kann der neurologische Befund mit der Hammersmith Infant Neurological Examination (HINE; Haataja et al. 1999; Romeo et al. 2016) und mit den Methoden nach Amiel-Tison (Amiel-Tison und Grenier 1986) und Touwen (Touwen 1976) beurteilt werden. HINE ist international weit verbreitet und schnell durchführbar. Allerdings berücksichtigt HINE kaum die spontanen Bewegungen, obwohl nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zustand des kindlichen Gehirns gerade über die Spontanmotorik erkannt werden kann. Aus diesem Grund hat die Qualität der Spontanmotorik in der Neurologischen Skala von SINDA einen zentralen Stellenwert. (HINE hat den Nachteil, dass die Risikoabschätzung altersabhängig ist und nicht für alle Altersgruppen im Säuglingsalter zur Verfügung steht.)

      Zur Entwicklungsbeurteilung des Säuglings werden häufig die Bayley Scales of Infant and Toddler Development (Bayley 2006), die Griffiths Mental Development Scales (Green et al. 2015) und die Mullen Scales of Early Learning (Mullen 1995) durchgeführt. Diese Verfahren dienen der umfassenden – im Alltag oft delegierten – Entwicklungsbeurteilung, wohingegen es sich bei SINDA um ein Screeningverfahren handelt. Im Vergleich zu den genannten Tests gilt für SINDA:

      1. SINDA beschränkt sich auf das 1. Lebensjahr,

      2. SINDA hat die praktikabel kürzeste Durchführungszeit,

      3. SINDA lässt sich leicht erlernen und

      4. SINDA benötigt als Materialien nur gängige Spielsachen, die leicht und überall im allgemeinen Handel erhältlich sind.

      Damit ist SINDA das einzige Verfahren, das zum Screening von neurologischem Befund, Entwicklungsstand und sozioemotionalem Verhalten einfach und zu geringen Kosten anwendbar ist. Es kann ohne Schwierigkeiten in den klinischen Alltag von medizinischen Fachleuten integriert werden.

      1.3 Das SINDA Manual

      Das SINDA Manual erleichtert Anwenderinnen die Durchführung der SINDA Skalen. Kapitel 2, ein theoretisches Kapitel, fasst die Prozesse der frühen Hirnentwicklung zusammen und bildet so eine Grundlage für die Früherkennung und Frühintervention entwicklungsneurologischer Störungen und Erkrankungen. Kapitel 3 beschreibt die praktischen Aspekte bei der Testung und gibt Informationen zu den psychometrischen Eigenschaften von SINDA.

      Kapitel 4–6 bilden den Hauptteil des Manuals, sie beschreiben die Durchführung der einzelnen Items und benennen die Kriterien für die Beurteilung als »typisch« und »atypisch«. Dabei bezieht sich Kapitel 4 auf die Neurologische Skala, Kapitel 5 auf die Entwicklungs-Skala und Kapitel 6 auf die Sozioemotionale Skala. Zu den Kapiteln gehören neben den Abbildungen auch zahlreiche Videobeispiele, die über https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-037922-0_sinda angesehen werden können. Der kurze Text zu den Videos ist in englischer Sprache verfasst, da SINDA international eingesetzt wird. In Kapitel 7, dem letzten Kapitel, wird die Aussagekraft der SINDA Ergebnisse im Hinblick auf spätere entwicklungsneurologische Erkrankungen und aktuellen Förder- und Behandlungsbedarf beleuchtet.

      Zum Schluss der Einführung drei wichtige Anmerkungen:

      • Erstens: Altersangaben in diesem Manual beziehen sich stets auf das um die Frühgeburtlichkeit korrigierte Alter (KA), außer sie werden explizit anders benannt (z. B. Fetalalter oder Gestationsalter bei Frühgeborenen).

      • Zweitens verwenden wir die Begriffe »Mutter« und »Eltern« stellvertretend für den Vater und für andere Bezugs- und Begleitpersonen bei der Untersuchung.

      • Drittens ist es für Autoren immer schwierig über Personen zu schreiben, die ja weiblich, männlich oder divers sein können. Man hat die Wahl zwischen korrekter Benennung aller Geschlechtsformen oder die Beschränkung auf nur eine. Im letzten Fall ist der Text wesentlich einfacher zu lesen, erweckt jedoch den Eindruck, andere Geschlechter würden vernachlässigt werden. Wir haben uns aus Gründen der besseren Lesbarkeit entschieden, jeweils nur eine Geschlechtsform zu verwenden, für die Fachpersonen die weibliche und für das Kind die männliche Form. Wir möchten hiermit ausdrücklich unsere alle-Geschlechter-respektierende Haltung betonen.

I Grundlagen

      2 Frühzeitige Erkennung von Säuglingen mit hohem Risiko für Entwicklungsstörungen und neurologische Erkrankungen

      Es ist eine große diagnostische Herausforderung, bereits früh im Säuglingsalter Kinder mit Entwicklungsstörungen und neurologischen Erkrankungen oder dem hohen Risiko für diese sicher zu erkennen. Die Schwierigkeit ergibt sich aus den erstaunlichen Entwicklungsprozessen des jungen Gehirns, die eine frühe präzise Vorhersage von Entwicklungsstörungen erschweren. Andererseits ermöglicht die hohe Plastizität des jungen Gehirns Chancen für Frühinterventionen. In diesem Kapitel werden die folgenden Themen dargestellt: (1) Eine Übersicht der entwicklungsbedingten Veränderungen des jungen menschlichen Nervensystems, (2) die Ursachen von Entwicklungsstörungen und neurologischen Erkrankungen, (3) die Schwierigkeiten bei der Früherkennung. Zum Abschluss (4) werden wir darlegen, dass Säuglinge mit einem hohen Risiko für Entwicklungsstörungen möglichst frühzeitig identifiziert werden sollen, denn nur so können Frühinterventionen eingesetzt werden, die darauf abzielen, den kindlichen Entwicklungsverlauf zu verbessern und das Wohl der Familie zu fördern.

      2.1 Die Entwicklung des jungen menschlichen Nervensystems

      Die Entwicklung des menschlichen Gehirns dauert viele Jahre: Erst im Alter von etwa 40 Jahren entspricht es in seiner Konfiguration dem Gehirn eines Erwachsenen (De Graaf-Peters und Hadders-Algra 2006; Hadders-Algra 2018a; image Abb. 2.1). Die Entwicklungsprozesse im Gehirn sind das Ergebnis einer kontinuierlichen Wechselwirkung von Genen und Umwelt, Aktivität und Erfahrung.

      Die neuronale Entwicklung beginnt in der fünften Wochen post menstruationem (pm) mit der Bildung des Neuralrohrs aus dem Ektoderm. Das sehr junge Neuralrohr generiert bereits spontane Aktivität. Die ersten Bewegungen des Fetus treten mit sieben Wochen pm auf, bevor spinale Reflexbögen vollständig ausgebildet sind. Daran lässt