2014 geschätzte Rate an Frühgeborenen, weltweit 10,6 %, entsprechend fast 15.000 000 Lebendgeborenen im Jahr 2014 (Chawanpaiboon et al. 2019).
UrsachenZeitpunkt
2.2 Ätiologie neurologischer Entwicklungsstörungen
Die häufigsten Ursachen, die zu Entwicklungsstörungen führen und/oder damit assoziiert sind, werden in Tabelle 2.1 zusammengefasst. Ob eine Erkrankung oder ein Risikofaktor wie eine intrauterine Wachstumsretardierung oder Frühgeburtlichkeit zu einer entwicklungsneurologischen Erkrankung führt oder nicht, hängt ab von:
• dem Zeitpunkt des Einwirkens
• der Intensität des Risikoereignisses
• der Dauer des Risikoereignisses
• der Resilienz des Säuglings und der Familie und davon, ob die Risikofaktoren isoliert oder in Kombination mit anderen auftreten.
So ist beispielsweise bekannt, dass die Cerebralparese (CP) häufig das Ergebnis nicht nur einer einzelnen, sondern einer Kette ungünstiger Bedingungen ist (Stanley et al. 2000). Eine solche Kette ungünstiger Bedingungen ist z. B. das Rauchen der Schwangeren, die intrauterine Wachstumsretardierung, die Frühgeburtlichkeit, und die darauffolgende intraventrikuläre Blutung.
Die Risikofaktoren können zu Hirnanlagestörungen, Hirnschädigungen, wie z. B. zu »white matter lesions«, (sogenannter periventrikulärer Leukomalazie) oder zu einem ischämischen Infarkt im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media, aber auch zu subtileren, mikrostrukturellen – mit Bildgebung nicht eindeutig detektierbaren – Beeinträchtigungen der Hirnentwicklung führen.
2.3 Herausforderungen bei der Früherkennung von entwicklungsneurologischen Erkrankungen
Die großen neurobiologischen Veränderungen im jungen Gehirn haben weitreichende Folgen für die entwicklungsneurologische Diagnostik im ersten Lebensjahr des Kindes. In den folgenden drei Abschnitten werden die wichtigsten Aspekte behandelt.
2.3.1 Entwicklungsneurologische Beurteilungsmethoden müssen altersspezifisch sein
Die fortlaufenden Veränderungen in der frühen Hirnentwicklung erfordern altersspezifische Untersuchungsmethoden. Mit anderen Worten, die Methoden müssen an die altersspezifischen Merkmale des Nervensystems angepasst werden. SINDA wurde für Säuglinge im Alter von sechs Wochen bis zwölf Monaten entwickelt. Wir haben sechs Wochen KA als untere Altersgrenze gewählt, weil dann die Phase um den ET endet, die durch eine transiente physiologische Übererregbarkeit beschrieben werden kann. Als obere Altersgrenze von SINDA haben wir zwölf Monate festgelegt, mit dem Ziel, eine Neurologische Skala zu entwickeln, die altersunabhängig ist. Bei Säuglingen bis zum Alter von zwölf Monaten können motorische Reaktionen wie die Traktion zum Sitzen oder die axilläre Hängelage auf gleiche, standardisierte Weise provoziert werden. Etwa ab zwölf Monaten jedoch, wenn die Kinder fast oder ganz frei gehen können, lassen sich diese Reaktionen nicht mehr zuverlässig bewerten. In diesem Alter hat sich die Fähigkeit des Gehirns im Hinblick auf eine antizipatorische Haltungskontrolle so stark geändert (Cignetti et al. 2013), dass die Kinder eine passive Haltungsprovokation nicht mehr zulassen.
Die entwicklungsneurologischen Änderungen bestimmen die Altersspanne von SINDA. Innerhalb des Altersbereichs sechs Wochen bis zwölf Monate wurde SINDA so konstruiert, dass (1) die Neurologische Skala altersunabhängig ist, und zwar nicht nur in der Art der verwendeten Untersuchungsitems, sondern auch im Hinblick auf die Beurteilungskriterien für typische und atypische Leistungen und auf den Risiko cut-off; (2) die Entwicklungs-Skala von SINDA aus einem Set unterschiedlicher Items für jeden Altersmonat besteht, die jedoch zu einem identischen Grenzwert für atypische Leistungen für jedes Alter führen; (3) die Sozioemotionale Skala von SINDA aus identischen Items und Beurteilungskriterien für atypisches Verhalten besteht.
2.3.2 Entwicklungsneurologische Dysfunktionen stellen sich altersabhängig unterschiedlich dar
Die altersabhängigen Eigenschaften des Nervensystems beeinflussen die Art und Weise, in der die Funktionsstörung des Gehirns zum Ausdruck kommt. Bei Erwachsenen zeigt sich eine neurologische Beeinträchtigung durch spezifische und fokale Symptome, z. B. als spezifisches Syndrom einer spastischen Hemiparese nach ischämischem Hirninfarkt (Stroke). Im Gegensatz dazu machen sich neurologische Störungen bei jungen Säuglingen überwiegend durch eine generalisierte und unspezifische Funktionsstörung bemerkbar. Beispielsweise kann ein Frühgeborenes mit einem linksseitigen Infarktgeschehen durch generalisierte Hypotonie, generalisierte Hypertonie, Hypokinesie, Hyperexzitabilität oder abnorme »General Movements« auffallen (Hadders-Algra 2004; Hamer et al. 2018). Bei Säuglingen, die später die Diagnose einer CP bekommen, ändert sich die Symptomatik graduell von den frühen unspezifischen Symptomen bis hin zur spezifischen (spastischen, dyskinetischen oder ataktischen, uni- oder bilateralen) CP-Symptomatik. Deshalb wird eine CP meist erst gegen Ende des ersten Lebensjahrs oder später diagnostiziert (Granild-Jensen et al. 2015). Es gibt jedoch viele Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel. Beispielsweise kann bei einigen Kindern die Diagnose einer unilateralen spastischen CP schon in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres gestellt werden, während sich bei anderen Kindern das klinische Bild der CP erst nach Jahren eindeutig zeigt. Auch andere Diagnosen können erst nach einiger Zeit gestellt werden. So treten die ersten subtilen Symptome von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) meist in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres auf (Ozonoff et al. 2010), das mittlere Alter der Diagnosestellung liegt derzeit jedoch noch bei 4–5 Jahren (Zwaigenbaum und Penner 2018).
2.3.3 Eine frühe Entwicklungsvorhersage ist schwierig
Die tiefgreifenden Veränderungen der Hirnentwicklung im Säuglingsalter (
2.4 Früherkennung ebnet den Weg für Frühinterventionen
Das Kapitel 2.3.3 unterstreicht, dass es schwierig ist, im ersten Lebensjahr neurologische Entwicklungsstörungen verbindlich zu diagnostizieren. Dies widerspricht jedoch nicht der möglichen Notwendigkeit frühzeitiger Interventionen. Säuglinge ohne spezifische Diagnose, aber mit einem hohen Risiko für eine entwicklungsneurologische Erkrankung, brauchen frühe Fördermaßnahmen, um ihr plastizitätsbedingtes Entwicklungspotenzial auszuschöpfen. Frühinterventionen zielen jedoch nicht primär darauf ab, eine spezifische Diagnose zu behandeln oder zu verhindern, sondern das Kind und seine Familie im Alltag zu unterstützen. Die Alltagssituation ist im Allgemeinen gekennzeichnet durch die psychische Belastung der Eltern und die anhaltenden Sorgen um die atypische Entwicklung des Kindes, die ihm nur begrenzte Möglichkeiten zur Erkundung seiner Umgebung gibt. Eine frühe Intervention soll beide Aspekte berücksichtigen (Hadders-Algra et al. 2017; Spittle et al. 2015; Hadders-Algra 2021a, b). Erstens zielt sie darauf ab, die Eltern zu unterstützen, insbesondere ihnen im Umgang mit ihrem Kind mehr Sicherheit zu vermitteln. Das ist dann besonders nötig, wenn das Kind nach der Geburt auf der Neugeborenen-Intensivstation aufgenommen war. Zweitens hat die frühzeitige Intervention das Ziel, die Entwicklung des Kindes direkt zu fördern indem sie die hohe Neuroplastizität der frühen Entwicklung so weit wie möglich nutzt.
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