die Anwohner, ob ihnen etwas aufgefallen ist und so weiter und so weiter. Sie kennen ja das Prozedere.«
Hauptkommissarin Kralle arbeitet noch nicht lange mit Kubischenko zusammen. Erst vor zwei Monaten hat sie sich in seine Abteilung versetzen lassen. Ihre Erfahrung hat sie eigentlich bei der Sitte gesammelt. Sie ist nicht gerade das, was man eine Sportskanone nennt, denn die Zeit hat nicht nur Falten um ihre Augen herum zurückgelassen, nein, ihr viel zu großer Busen hat wohl ebenfalls an Spannkraft verloren und ist inzwischen mehr als ein Hindernis beim schnellen Laufen geworden. Man kann sich vorstellen, dass gerade bei der Sitte der eine oder andere hohle Spruch von irgendwelchen Mistkerlen betreffend ihrer Oberweite abgegeben wurde, und selbst einer ihrer damaligen Vorgesetzten meinte einmal zu ihr, dass es wohl eine Fehlentscheidung wäre, eine Frau mit so riesigen weiblichen Attributen gerade bei der Sitte einzusetzen. Nicht einmal ihre damalige Beschwerde schien von den männlichen Vorgesetzten so richtig ernst genommen worden zu sein, denn komischerweise wurde ihr sofort nach der Beschwerde dieser Posten in Wittmund angeboten.
Nun ja, sie ließ sich nicht zweimal bitten und jetzt ist sie im Team des ersten Hauptkommissars Kubischenko.
Hauptkommissarin Kralle nickt kurz und zückt wie immer erst einmal ihr Handy, um Fotos von dem Fundort und der Umgebung zu machen.
Das scheint eine ihrer Leidenschaften zu sein, denn das macht sie grundsätzlich. Was sie dann mit den vielen Fotos so macht, das ist eigentlich niemanden klar, aber richtig stören tut das wohl auch niemand, weshalb scheinbar auch noch niemand nachgefragt hat.
Inzwischen ist der erste Hauptkommissar Kubischenko an der Stelle angekommen, wo der automatisch betriebene Rechen des Schöpfwerkes den gesammelten Unrat abkippt. Dort trifft er auf die leitende Polizeiforensikerin Frau Doktor Schall-Berger, die sich gerade das abgetrennte Körperglied genauer ansieht.
»Moin Kojambo«, sagt die Forensikerin, bevor der erste Hauptkommissar überhaupt irgendetwas sagen kann.
»Der Unterschenkel wurde definitiv nicht von einer Schiffsschraube abgetrennt, das kann ich schon jetzt mit Sicherheit sagen. Dafür sind die Schnittkanten zu sauber und der Knochen wurde einwandfrei durchgesägt. Die Kollegen fahren jetzt noch mit dem Schiff der Wapo an den Rechen des Schöpfwerkes, um da nochmals genau hinzuschauen. Aber wegen der ständigen Wasserbewegung werden sie dort wohl nichts finden. Eine Leiche im Hafenbecken ist wohl deshalb auch nicht zu vermuten. Ich denke, du kannst das hier abbrechen. Mehr Infos gibt es am Montag, nach der genaueren Untersuchung in unserem Labor, also, wir packen dann gleich alles zusammen, schönes Wochenende.«
Während der eine Teil der Spurensicherung den Körperteil in eine Aluminiumkiste verpackt, ist der andere Teil schon mit dem Polizeischiff an der Rechenanlage des Schöpfwerkes angekommen, um diese ebenfalls in Augenschein zu nehmen.
Während des Weggehens sagt Hauptkommissar Kubischenko zu sich selbst, dann ist ja hier im Moment nichts mehr für mich zu tun. Montag sehen wir dann weiter. Meine Angelausrüstung wartet nämlich schon. Endlich Wochenende. Gleichzeitig greift er zu seinem Handy, um mit seiner Kollegin zu sprechen, die komischerweise das Gespräch sofort entgegennimmt, so als wenn sie schon darauf gewartet hat.
»Frau Kralle, wenn Sie mit den Befragungen fertig sind und die Spusi vom Sperrwerk abrückt, dann können Sie hier abbrechen und alles wieder für den Verkehr freigeben. Lagebesprechung am Montag um dreizehn Uhr in meinem Büro, am Besprechungstisch. Alles Weitere dann. Ich fahre jetzt mit einer der Streifenwagenbesatzungen zurück nach Wittmund. Ach ja, und Frau Kralle, schönes Wochenende.«
Der erste Hauptkommissar wartet erst gar keine Antwort ab. Er beendet das Gespräch und geht dann zu einem der wartenden Streifenwagen, der auch kurze Zeit später mit ihm davonfährt.
Kapitel 2
Der erste Hauptkommissar Kubischenko öffnet gerade seinen Mail-Account. Mal sehen, was denn über das Wochenende so angefallen ist, denkt er noch so für sich selbst, als ihm die E-Mail von Staatsanwalt Jochen Rupens ins Auge fällt.
Ein fettgedrucktes Wichtig kann eigentlich nichts Gutes bedeuten, zumindest nicht an einem Montagmorgen und nicht schon vor neun Uhr abgesendet. Hat sich mal wieder ein gut situierter Steuerzahler oder irgendein überwichtiger Rechtsanwalt über ihn beschwert, muss dringend wieder irgendeine mehr als unwichtige Statistik dringend auf den neuesten Stand gebracht werden, nur weil irgendein überflüssiger, wichtigtuender Politiker mal wieder irgendeine Anfrage an die Landesregierung gestellt hat?
Eigentlich wollte er sich erst einmal eine Tasse Kaffee holen, der übrigens gar nicht so schlecht schmeckt, wie die sonstige Plörre, die man so in deutschen Kriminalbehörden findet. Schon mehr als einmal hat Kubischenko gedacht, dass es mehr als super ist, dass seine Kollegin Kralle jetzt in seinem Kriminalkommissariat ihren Dienst versieht. Sie kennt nicht nur die Herkunftsorte der besten Kaffeebohnen und weiß, wie man durch richtiges Brühen die besonderen Geschmacksnoten herausstellen kann, nein, sie bereitet ihn sogar in einem schon fast morgendlichen Ritual mit besonderer Liebe zu und mehr als einmal passiert es, dass auch mal ein Kollege aus einer anderen Abteilung mit einem eigentlich fadenscheinigen Grund hereinschaut, nur um eine Tasse ihres vollkommenen Kaffees zu schnorren. Die besonderen Kaffeemischungen kauft sie übrigens immer in der Fußgängerzone in der Stadt Norden ein und Kubischenko wundert sich jedes Mal wieder darüber, wie lange es dauern kann, bis seine Kollegin eine Tüte Kaffee gekauft hat und wie lange man mit einem Kaffeeverkäufer beratschlagen muss, wie viel Gramm von einer bestimmten Sorte Kaffeebohnen unbedingt der Mischung beigefügt werden muss.
Aber gut, der Zweck heiligt die Mittel.
Heute siegt aber doch die Neugierde über den Wunsch nach diesem perfekten Gebräu und er liest den Inhalt der Mail. Darin steht geschrieben: »Heute zehn Uhr Besprechung in meinem Büro.« Mit dem Nachsatz in Fettdruck, man solle pünktlich sein.
Flüchtig schaut er auf die Uhr. Was, schon zwölf Minuten vor zehn Uhr, denkt er sich. Laut brüllt er durch die Zwischentür ins Nachbarzimmer: »Kralle, Gas geben, in zwölf Minuten müssen wir im Büro von Staatsanwalt Rupens sein, Mailzusatz, pünktlich sein.«
Die beiden schauen sich nochmals fragend an, Hauptkommissarin Kralle schaltet noch ihren viel zu langsam arbeitenden PC aus und schon geht es durch die langen Flure, zwei Etagen zu Fuß hinauf, weil natürlich der Aufzug – wie eigentlich immer – defekt ist und hinein in das Büro von Staatsanwalt Rupens, natürlich wie immer in letzter Minute und ohne anzuklopfen.
Dort sitzen Staatsanwalt Rupens und Polizeirat Dr. Wehmut am Besprechungstisch und lassen sich eine Platte mit Mettbrötchen schmecken, deren Zwiebelgeruch das Büro mehr an ein Frühstückzimmer eines mittelklassigen Hotels, als an ein Büro eines Staatsrepräsentanten erinnern lassen. Die beiden schauen überrascht nach oben, so als wenn sie sich selbst fragen, warum denn solche Eile angesetzt ist. Mit halbvollem Mund fordert der Staatsanwalt die beiden auf, sich doch schon einmal zu setzen, mit der Hand gerade wieder nach einem halben Mettbrötchen von der Platte greifend. Während Rupens noch genüsslich an dem besagten Mettbrötchen kaut, klopft es zaghaft an der Tür, worauf er immer noch kauend und mit immer noch halbvollem Mund »herein!« ruft.
Es tritt Kommissar Klaus Heidenreich herein, der ebenfalls mit einer Handbewegung aufgefordert wird, sich doch zu den anderen an den Tisch zu gesellen, was er zaghaft und moinsagend tut.
Das ist doch der Grünschnabelkommissar, der am Freitag an der Schleuse in Harlesiel war, denkt Kubischenko. Was soll der denn hier?, überlegt er so für sich. Dann beobachtet er aber Staatsanwalt Rupens dabei, wie er sich auch noch das letzte Mettbrötchen vom Teller nimmt und denkt sich, dass es wohl kein Zufall ist, dass seine Kollegen den Staatsanwalt immer Rubens statt Rupens nennen, denn die Figur spricht schließlich für sich selbst. Der Kerl scheint ja nur zu futtern und die Geschwindigkeit in der er jetzt die Mettbrötchen weggeputzt hat, scheint auch nicht übertreffbar zu sein, denkt er weiter so für sich.
Rupens zieht ein scheinbar benutztes, ziemlich fleckiges Taschentuch aus seiner Tasche, wischt sich damit über den Mund, putzt sich noch einmal oberflächlich die Hände ab und fängt dann an zu reden:
»Hauptkommissarin Kralle, meine Herren, das ist Polizeirat Dr. Wehmut, den Sie ja