an den „Gott im Präsenz, im Prozess“ (Faulhaber, 42), um eine Formulierung Kurt Faulhabers aufzugreifen. Es geht um eine vorsichtige Theologie, die dem Fragen mehr Raum gibt und Antworten nicht als Gewissheiten verkauft. Vorsichtig heißt aber nicht weniger Theologie, sondern mehr. Mehr Theologie wagen und fortschreiben ist das Gebot der Corona-Stunde.
GOTT DER LÜCKE
Die Corona-Krise zwingt uns zum social distancing. Und ohne die Krise schönzureden, könnte in dieser Erfahrung eine Spur gelegt sein, die uns zum „Gott der Gegenwart“ führt, wie ihn Ingolf U. Dalferth gegen meinen „Gott von gestern“ behauptet. Interessanterweise hat der Musiker Helge Schneider bei seinen Auftritten die Erfahrung gemacht, dass das Publikum unter Abstandsregeln mehr Nähe verkörpert als der Pulk (vgl. Schneider, 24). Wenn viele Menschen auf einer Fläche mit Abstand stehen, werden die Beziehungen sichtbar und die Wahrnehmung der Personen in den Beziehungen erst dann vollständig möglich. Das entsprechende Bild ist das Netzwerk, in dem die Beziehungen die Knotenpunkte konstituieren und nicht umgekehrt. Durch social distancing entstehen Zwischenräume, die Bezogenheiten sichtbar machen, und die ahnen lassen, dass diese unbegrenzt sind. Ich glaube, eine persönliche Gottesbeziehung geht nicht mehr im Sinne des Ich und mein Herrgott, sondern sie muss genauso unbegrenzt konstituiert werden. Wenn ich mich auf Gott im Hier und Jetzt beziehe, und dies ist meine tägliche Sehnsucht, dann kann ich es nur in einem Allbezug zur Welt, zur leidenden Schöpfung, zu allen Menschen. Henning Luther hat entschieden darauf aufmerksam gemacht, dass sich Sinn und Lebensgewissheit nicht individuell realisieren lassen, sonst verkommt der Glaube zum Heilsegoismus (vgl. Luther). Noch etwas: Im social distancing muss ich oft einen Schritt zurück machen, um dem Abstandsgebot zu entsprechen. Manchmal muss ich auch zu der Person gegenüber sagen: „Bitte mach einen Schritt zurück.“ Dieser Schritt zurück ist ein Bild für die Gottesbeziehung, für Beziehung überhaupt. Nur im Schritt zurück, im Freilassen und Raumgeben entsteht eine Ahnung für die Größe des anderen, für den Zwischenraum, in dem Gott verborgen weilt. Ich glaube nicht, dass wir „auf Gott draufsitzen“, wie Ingolf U. Dalferth meint, wenn er schreibt: „Gott ist uns so nahe, dass es keine Distanz zu ihm gibt. Ohne Distanz aber können wir nichts wahrnehmen“ (Dalferth, 31). Ich glaube eher, dass es im Glauben um eine neue Sensibilität für die Möglichkeitsräume dazwischen geht, um die Chance, dass sich zwischen Menschen etwas ereignet, was göttliche Spuren beinhaltet. Ein kürzlicher Besuch in der Kunststation St. Peter, Köln hat mir dies erneut anhand des Altars von Eduardo Chillida vor Augen geführt. Dieser Altar besteht aus drei Teilen, die so angeordnet sind, dass zwischen Zelebrant*in und Altar bzw. allem, was auf diesen gestellt wird, ein Zwischenraum entsteht, eine Lücke, die im Handling der Gaben überwunden wird und gleichzeitig unüberwindbar bleibt. Sprechender kann Kunst kaum sein und sprechend ist auch die immer noch ärgerliche Tatsache, dass dieses Kunstwerk in das linke Seitenschiff verbannt wurde, als ob die Kirche diese Lücke schließen könnte und nicht offenhalten müsste. Ich meine, unter Corona-Bedingungen ist Gott eher die Lücke, die offen bleibt, als der/die, der/die die Lücken schließt.
DER GOTT DES EREIGNISSES
Die Rede von Gott in der Krise muss vorsichtiger, tastender und ahnender werden. Sie soll nicht unbestimmt werden, aber so bestimmt, wie sie einmal war, kann sie nicht bleiben. Gibt es einen Ort zwischen unbestimmt und bestimmt, wo wir uns treffen können?
Der Diskurs über überkommene Bilder und Zuschreibungen an Gott, die nicht mehr haltbar sind und möglicherweise ursprünglich gar nicht christlich waren, muss geführt werden. So ist etwa Abba eindeutig ein schwaches Gottesbild und kein mächtiges. Am Kreuz zu sterben als Sohn Gottes kann als Erweis göttlicher Ohnmacht gesehen werden. Die Auferstehung ist der Gewinn des Lebens, aber selbst Gott kommt am vorausgehenden Tod nicht vorbei. So kommt ja auch das Reich Gottes nicht zu Lebzeiten der Zeitgenossen Jesu, sondern wir warten immer noch, wir hoffen immer noch, und langsam wächst der Zweifel, ob das noch klappt. John D. Caputo hat in einem endlich übersetzten Text die falschen Machterwartungen an Gott von den biblischen Texten her Lügen gestraft und zieht daraus Konsequenzen für die Kirche: „Wenn die Grundannahme des Christentums besagt, dass ‚Gott‘ für ein Ereignis steht, das die oberen Schichten von Macht, Know-how und Privileg schockiert, dann müssen die Institutionen und Strukturen des Christentums porös sein, offen, von unten nach oben gekehrt, gastfreundlich“ (Caputo, 237).
Gott ist Beziehung. Beziehung ist nichts Statisches, sondern bewegt, im Prozess. Beziehung ist nicht trennbar von den Bezogenheiten der Welt. Beziehung ist nicht substanzhaft, sondern ereignishaft. Beziehung geschieht, gelingt. Sie ist kein Dauerzustand, sondern bedarf des Werdens, der Genese. Beziehungsereignisse lassen sich nicht festhalten, sondern sind flüchtig. Was den Personbegriff ausmacht, ist seine Beziehungskompetenz. Gegen den neuzeitlichen Personbegriff, der Freiheit und Selbstbesitz betont und geradlinig auf Gott überträgt – „Die Bezugnahme auf den neuzeitlichen Personenbegriff ist theologisch […] höchst umstritten“ (Böhnke, 172) – ist eine Person wesentlich ein Beziehungswesen, das am Du, an der Beziehung wird. Bezogenheit, Werden und Wachstum, wenn auch nicht linear, gehören zum postmodernen Personbegriff und damit Freiheit und Selbstbesitz in der Balance mit Abhängigkeit, Selbstwerden und „Fremdheit in mir“ (Pamuk). Klaus Hemmerle hat das Geben als Wesensmerkmal Gottes ausgemacht und versteht daher personalen Selbstbesitz nicht als Haben, sondern als ein Geschehen der Selbstmitteilung. Wenn Gott Sich-Geben ist, stellt sich die Frage, ob nur der Empfangende an Gott wird oder auch Gott am Empfänger, an der Empfängerin. Wenn „Gott ist Beziehung“ (Theobald) nicht nur eine hübsche Aussage darstellt, sondern radikal gedacht wird, dann ist Gott in Bewegung, im Prozess, in der Genese, im permanenten Prozess der Inkarnation. Dann sind Welt und Gott notwendig miteinander verbunden und aufeinander verwiesen. Dann kommt es auf Gott an, in die Welt zu kommen und es kommt auf die Welt an, ob sie die Gelegenheiten bietet, dass sich Göttliches ereignen kann. Und genau darin steckt die Fragilität, die Stärke und Schwäche des Glaubens und die dringende Suche nach den Spuren Gottes in der Welt. Weihnachten bietet die entsprechende Ritualzeit, der Spurensuche nach dem Stern und den Sterndeutern zu folgen. Weihnachten ist gleichzeitig die Verheißung, dass sich das Göttliche wieder und wieder ereignen wird. Theologie muss sich auf die Suche machen.
LITERATUR
Bundschuh-Schramm, Christiane, Der Gott von gestern. Warum die Kirchen in der Krise sprachlos sind, in: Publik Forum 13 (2020), 28–31.
Böhnke, Michael, Gottes Geist im Handeln der Menschen. Praktische Pneumatologie, Freiburg i. Br. 2017.
Caputo, John D., Gottes konjunktivische Macht, in: Concilium 56 (2020), 234–241.
Dalferth, Ingolf U., Gott der Gegenwart. Was Christen heute zu sagen haben, in: Publik Forum 17 (2020), 28–31.
Hagencord, Rainer, „Wir bringen Gott zum Schweigen“, in: Tag des Herrn vom 09.08.2020, 4–5.
Faulhaber, Kurt, Was war, geschieht neu: Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte, in Gerber, Michael/Brantzen, Hubertus/Faulhaber, Kurt/Schmid, Bernhard J. (Hg.), Pastoral am Puls. Glaubenswege gehen – geistliche Prozesse leiten, Freiburg i. Br. 2019, 41–43.
Kienzler, Klaus, Bewegung in die Theologie bringen. Theologie in Erinnerung an Klaus Hemmerle, Freiburg i. Br. 2017.
Luther, Henning, Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: Praktische Theologie 33 (1998), 163–176.
Pamuk, Orhan, Diese Fremdheit in mir, München 2016.
Reckwitz, Andreas, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
Ruhstorfer, Karlheinz, Worauf es jetzt ankommt. Covid-19 und die Frage nach Gott, in: Herder Korrespondenz 9 (2020), 26–28.
Schneider, Helge, „Die denken, der verdient mit Scheiße Geld“.
Der Musiker Helge Schneider beschäftigt