sondern beschleunigen und verändern unser Leben von Grund auf.« Eine wirkliche Herausforderung für einen geistlichen Weg. Natürlich gibt es auch viele positive und nicht nur negative Veränderungen, aber die Letzteren sind zunächst die Stolpersteine auf unserem Weg.
Im Internet unterwegs, um über unsere komplexe Welt ein wenig mehr Informationen zu erhalten, fand ich einen Blog über Werteentwicklung, die anhand eines Akronyms dargestellt wurde: VUCA. Entwickelt in den 1990er Jahren von einer amerikanischen Militärausbildungsstelle im Blick auf die Ausbildung militärischer Führungspersonen, hat es sich inzwischen auf viele Bereiche ausgebreitet. Was für Führungspersonen – gleichgültig ob im militärischen oder wirtschaftlichen Bereich – wichtig ist, scheint mir auch für ganz normale Menschen zu gelten, die in ihrem eigenen Leben in dieser Welt Leitung für sich selbst übernehmen wollen – und zwar aus dem Glauben heraus. So nehme ich dieses Wort als Leitfaden für meine Überlegungen, da es nicht nur eine Beschreibung der aktuellen Welt ist, sondern zugleich auch mit anderer Wortbedeutung eine Bewältigung der Komplexität anzeigt.
VUCA ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben der Worte:
V – volatility = Volatilität / Unbeständigkeit | vision = Vision |
U – uncertainty = Unsicherheit | understanding = Verstehen |
C – complexity = Komplexität | clarity = Klarheit |
A – ambiguity = Ambiguität / Mehrdeutigkeit | agility = Agilität |
Die linke Wortspalte ist die Beschreibung der vorgefundenen Weltsituation und die rechte ein Vorschlag, damit positiv umgehen zu können.
V: Unbeständigkeit bestimmt das persönliche Umfeld, in dem wir leben. Wo gestern noch ein bestimmtes Geschäft war, ist morgen schon ein anderes. Berufswechsel ist oft notwendig, um den ständig wechselnden Arbeitsbedingungen nachkommen zu können. Durch häufige Umzüge entstehen oft erst gar keine Nachbarschaften und die einzelnen bleiben fremd in einer fremden Umgebung. Sogar in den Familien mit wechselnden Partnerschaften verlieren die einzelnen ihren Halt. Unbeständigkeit zwingt mich zu einem ständigen Loslassen, was wiederum kein wirkliches Loslassen ist, da ich das, was mir immer wieder genommen wird, gar nicht wirklich halte. Es zerrinnt mir zwischen den Fingern. Unbeständigkeit ist das größte Hindernis, wenn ein Mensch zur Persönlichkeit reifen soll. Unbeständigkeit – darin ist das Wort »Stand«: Meine Lebenssituation gestattet mir offensichtlich oft nicht, einen wirklichen Stand zu finden. Sie treibt mich ständig voran.
Es gibt einen Grund, in dem ich mich verankern kann
In einer Weisheitserzählung sagte eines Tages der Meister: »Leider ist es einfacher zu reisen als anzuhalten.« Die Schüler wollten wissen, warum. »So lange man unterwegs zu einem Ziel ist, kann man an einem Traum festhalten. Wenn man anhält, steht man vor der Wirklichkeit.« »Wie sollen wir uns je ändern, wenn wir keine Ziele oder Träume haben?« fragen die verwirrten Schüler. »Eine wirkliche Veränderung ist eine Veränderung, die nicht gewollt ist. Stellt euch der Wirklichkeit und eine spontane Veränderung wird sich vollziehen.« Was hilft mir angesichts des mich umgebenden Getriebenseins Stand zu fassen, anzuhalten in der Bewegung, einen Anker zu werfen. In einer Biografie der hl. Klara von Assisi schreibt ihr zeitgenössischer Biograf zu dem Ort, an dem sie ihr Leben der Nachfolge des armen Jesus begann: »Dort warf sie den Anker ihrer Seele auf sicheren Grund«. Wohin kann ich den Anker meiner Seele werfen? In das Wort Gottes? Vielleicht sogar in den Hl. Geist? Der Anker verhindert, dass ich in all den Bewegungen abgetrieben werde. Es gibt einen Grund, in dem ich mich verankern kann, dessen ich mich immer wieder vergewissere und zu dem ich die Verbindung pflege.
Gottfried Bachl versucht den Glauben Jesu selbst in solch einem Bild zu umschreiben: »Er [Jesus] schlingt das Seil um die ganze Welt, wohin immer sie reichen mag, um die Summe ihrer Schicksale, um die kausalen Notwendigkeiten, die sie enthält, um Stern und Erde und Leben und Tod, und wirft es Gott zu, der es gewiss fängt und den Werfer hält – so wird sie leicht mitsamt dem Schrecken, den sie einjagt.«
Die Entwickler von VUCA setzen zur Bewältigung der Unbeständigkeit den Begriff der Vision entgegen. Dabei ist Vision zu verstehen als ein zielgerichteter Blick in die Zukunft, eine Entscheidung für eine Perspektive. Ein möglicher Schritt aus der Komplexität hin zur Einfachheit könnte darin bestehen, öfter anzuhalten und sich des eigenen Standes zu vergewissern, sich zu entscheiden, worin ich mich festmachen will, wem ich das Seil meines Lebens zuwerfe.
U: Unsicherheit meint den bewusst wahrgenommenen Mangel an Sicherheit, ein Zustand, in dem wir uns selbst in Zweifel ziehen angesichts der uns umgebenden zweifelhaften Gegebenheiten. Meist fühlen wir uns unsicher, wenn wir nicht wissen, was auf uns zukommt, wenn wir Konsequenzen nicht abschätzen können und merken, dass wir keinen Einfluss auf das haben, was uns betrifft. Unsicherheit erzeugt oft Angst. Grundsätzlich hat Angst ja eine durchaus hilfreiche Funktion, damit wir nicht unnötig unser Leben in Gefahr bringen. Doch oft ist es gerade auch die rein fiktive Größe der Angst, die das Leben in uns hindert und Beziehungen zerstört, in denen sich Leben ereignet. Angst hat – schon vom Wortstamm her – etwas mit Enge zu tun. Und wenn es uns irgendwo eng wird, liegt es meist daran, dass die äußere Enge uns an unsere innere Enge stoßen lässt, die es dann anzuschauen gilt.
Ein Schüler fragte den Meister: »Was ist der größte Feind der Erleuchtung?« »Angst.« »Und woher kommt die Angst?« »Aus der Einbildung.« »Und was ist Einbildung?« »Zu denken, dass die Blumen neben dir giftige Schlangen seien.« »Wie soll ich Erleuchtung erreichen?« »Öffne deine Augen und sieh!« »Was?« »Dass keine einzige Schlange in der Nähe ist.«
Menschen geistlich zu begleiten, damit sie aus der Unsicherheit heraus einen Weg ins Verstehen finden, wo sich manches für sie klären kann, verlangt ein hörendes Herz, das dem anderen einen Echoraum schenkt.
Manchmal hilft es schon, genau hinzusehen. VUCA setzt als Gegenbegriff zur Unsicherheit den Begriff des Verstehens. Dabei ist für mich Verstehen nicht das logische Nachvollziehen und Analysieren dessen, was der andere sagt.
In der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute heißt es: »Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.« In diesem Sinn bedeutet verstehen, dass ich dem anderen einen Raum des Hörens öffne. Und indem ich ihm in dieser Offenheit und Raumgebung zuhöre, kann er sich selbst im Echo verstehen, das in meinem Herzen nachklingt. Menschen geistlich zu begleiten, damit sie aus der Unsicherheit heraus einen Weg ins Verstehen finden, wo sich manches für sie klären kann, verlangt ein hörendes Herz, das dem anderen einen Echoraum schenkt.
C: Komplexität meint die Vielschichtigkeit des Geschehens. So viele Faktoren treten miteinander in Wechselwirkung, dass es oft fast nicht mehr möglich ist, auf einen Blick zu erkennen, wie die Dinge zusammenhängen. Die Ursache einer Krankheit zu erkennen, lässt uns oft von einem Spezialisten zum nächsten wandern – und jeder hat ein anderes Diagnosesystem, von dem der andere wiederum nichts weiß. Und je mehr Informationen wir aufnehmen, umso geringer ist die Chance, dass unser Arbeitsgedächtnis noch unterscheiden kann zwischen wichtig und unwichtig, und das Ende ist Überforderung und Stress.
Es bedarf des Einübens einer gewissen Askese, zu der vielleicht noch einmal eine Meister-Schüler-Erzählung etwas deutlich macht:
Der Meister erzählte einmal von einer kostbaren antiken Schale, die bei einer öffentlichen Versteigerung ein Vermögen einbrachte. Ein Landstreicher, der in Armut gestorben war, hatte damit um Almosen gebettelt, ohne ihren Wert zu ahnen. Als ein Schüler den Meister fragte, was die Schale bedeuten sollte, sagte der Meister: »Dein Selbst.« Man bat ihn, das näher zu erklären. Er sagte: »Ihr verschwendet eure Aufmerksamkeit auf Kleinkram, den ihr als Wissen bei Lehrern und aus Büchern sammelt. Ihr tätet besser daran, die Schale zu beachten, in der ihr dieses Wissen aufnehmt.« Askese ist ein Einüben der Unterscheidung zwischen Schale und dem, was wir hineinfüllen. Indem wir darauf verzichten, alles hineinzutun, kommt der Eigenwert der Schale zum Vorschein. Es bedarf der Askese im rechten Umgang mit dem Wort, im Schweigen und Hören.
An den Hirnforscher Ernst Pöppel stellte die NASA