René Buchholz

Falsche Wiederkehr der Religion


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vielmehr ihre alles prägende Kraft und bildet nur noch einen Teilbereich, der mit anderen um Geltung und Beachtung konkurriert. Demnach hat auch Max Webers Theorie einer fortschreitenden Säkularisierung und Entzauberung der modernen Gesellschaft keineswegs ausgedient, wie man zuweilen lesen kann, sondern Aufklärung, Säkularisierung, Rationalisierung und ‚Wiederkehr der Religion‘ gehören einem einzigen komplexen Prozess an, dessen Ausgang noch nicht entschieden ist. Mit Luhmann möchte ich dafür plädieren, „den Begriff der Säkularisierung nicht ersatzlos zu streichen. Gravierende Veränderungen, die seit 1800 offen zutage treten, lassen sich schwerlich bestreiten.“28 Eben diese Veränderungen sollen vorab genauer analysiert werden, wobei einzuräumen ist, dass sie einen regional unterschiedlichen Verlauf nahmen und heute nicht notwendig jede Selbstbezeichnung als ‚säkular“ eine dezidiert a- oder antireligiöse Sicht impliziert29 (Kapitel 1).

      In einer ersten Annäherung wird sodann das ‚hässliche Phänomen“ beschrieben und ein Definitionsversuch unternommen, dessen Tauglichkeit im Fortgang zu erweisen ist. Eine Definition setzt voraus, dass es, bei allen religiös-kulturellen Differenzen und regionalen Ausprägungen, doch ‚Familienähnlichkeiten‘ gibt, die es gestatten, von ‚Fundamentalismus‘ zu sprechen, und zwar über den nordamerikanischen Kontext hinaus, wo das Wort geprägt wurde, das heute im amerikanischen Diskurs religiöse Gruppen mit einer „aktiven Opposition zu Liberalismus, Säkularismus und Kommunismus“ bezeichnet.30 Die Beschränkung auf die drei monotheistischen Religionen soll nicht suggerieren, dass in Hinduismus und Buddhismus fundamentalistische Strömungen unbekannt seien; das Gegenteil trifft zu.31 Selbst dezidiert säkulare, atheistische Positionen werden zunehmend in einer jeden Zweifel ausschließenden Form vorgetragen und mit missionarischem Eifer verbreitet, als müsste man sich an der offenbar erfolgreichen fundamentalistischen Propaganda orientieren. Um den Stoff aber einigermaßen überschaubar zu halten, stehen fundamentalistische Tendenzen in den vertrauteren monotheistischen Religionen im Zentrum der Überlegungen (Kapitel 2).

      Die Frage nach dem Ursprung des Fundamentalismus und nach seinen Formen lässt sich nur mit Blick auf die Stellung des Subjekts als Träger religiösen Bewusstseins innerhalb moderner Gesellschaften beantworten.32 Wie ist es um den ‚Hörer des Wortes‘ (K. Rahner), und sei es des autoritär an ihn ergehenden, in der späten Moderne bestellt? Wie unter einem Brennglas lassen sich am Schicksal des Subjekts gesellschaftliche Prozesse und Tendenzen ablesen. Möglicherweise ist der Fundamentalismus „ein Indikator globaler sozialer Spannungen, die auch politische, wirtschaftliche und kulturelle Bereiche berühren“,33 die im individuellen Bewusstsein ihren (verqueren) Ausdruck finden (Kapitel 3). Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Religion: „Es wäre weit besser, überhaupt keine Vorstellung von Gott zu haben, als eine, die seiner unwürdig ist“, schreibt Francis Bacon in den Essays34. Gleich zwei Weisen solch ‚unwürdiger Vorstellungen‘ von Gott finden wir in den hier zu besprechenden Ausprägungen des Fundamentalismus, von denen meist nur die zweite in der Literatur diesem Begriff zugeordnet wird: nennen wir die erste den ‚lächelnden‘ Fundamentalismus kulturindustrieller Religiosität (oder soft religion), die zweite den ‚grimmigen‘ Fundamentalismus (strong religion), dessen nihilistische Implikationen und Konsequenzen auch weitaus deutlicher zutage liegen (Kapitel 4).

      Schließlich ist in selbstkritischer Reflexion nach dem Verhältnis von Kirche(n), Glaube und Fundamentalismus zu fragen. Dieses Kapitel mag auf manch einen irritierend wirken, befasst es sich doch nicht mit ‚Randgruppen‘, scheinbar skurrilen Formen der Religiosität, verhärteten Identitäten und Fanatismus, sondern mit der kirchlichen Verunsicherung angesichts der Erfolgsbilanz fundamentalistischer Gruppen – und vor allem ausgerechnet mit des Theologen liebstem Kind: dem Glauben. Enthält der moderne, spätestens seit Kierkegaard von evangelischen und katholischen Theologen formulierte Begriff des Glaubens mit seiner Entscheidungsemphase, welche den aufkeimenden Zweifel suspendiert, eine kryptische Affinität zum Fundamentalismus, insofern auch er problematische Urteile apodiktisch formuliert – und wo sind die notwendigen Korrekturen vorzunehmen? (Kapitel 5)

      „Der Fundamentalismus“ schreibt Susan Neiman, „ist in allen größeren Religionen auf dem Vormarsch, weil er etwas Wertvolles anzubieten scheint, das man weder kaufen noch verkaufen kann. Selbst wo er nicht zur Gewalt führt, liegt seine Tragödie in seiner Unfähigkeit, die Würde zu bieten, nach der er sucht. An einem von religiöser Autorität diktierten Verhalten ist nichts Erwachsenes. Aber welche Alternativen bieten wir an?“35

      Zumindest einer möglichen Alternative widmet sich das Kapitel 6. Denn keine Dialektik der Aufklärung rechtfertigt einen fideistischen Kultus der Unmittelbarkeit oder die Rückkehr zu unerhellten Autoritäten. Hier ist an Diderots bissigen Aphorismus aus der Addition aux Pensées philosophiques zu erinnern:

      „Des Nachts, verirrt in einem riesigen Wald, habe ich nichts als ein kleines Licht, um mich zu leiten. Da erscheint ein Unbekannter, der mir sagt: ‚Mein Freund, blase deine Kerze aus, um den Weg besser zu finden. Dieser Unbekannte ist ein Theologe.‘“36

      Im Zeitalter des Fundamentalismus ist dies durchaus aktuell. Jenseits dieser ‚guten Ratschläge‘ hatte einmal die monotheistische Aufklärung den Menschen ein Licht entzündet – nicht ausgeblasen. Deren biblische Genese und Aktualität ist im letzten Kapitel herauszuarbeiten. Diese fatalismuskritische „Religion für Erwachsene“, wie Emmanuel Levinas sie nennt, bildet eine Alternative zum Fundamentalismus und zur kulturindustriellen Infantilreligion als destruktive Reaktionen auf die Verwerfungen der späten Moderne. Beginnen wir aber zunächst mit einer genaueren Erhellung der historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen der Fundamentalismus allmählich Gestalt gewonnen hat, die seine Voraussetzungen bilden und auf die er primär reagiert.

      Bonn, im Januar 2017

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