menschliche Gehirn ist zeitlebens in der Lage, einmal entstandene Vernetzungen seiner Nervenzellen wieder umzubauen. Deshalb können bis ins hohe Alter sogar sehr eingefahrene Bahnen und Verschaltungsmuster, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auch wieder verändert und an neue Gegebenheiten angepasst werden. Diese lebenslange Lernfähigkeit zeichnet uns als Menschen gegenüber allen ebenfalls mehr oder weniger lernfähigen Tieren aus. Deshalb sollte es uns eigentlich nicht allzu schwerfallen, die Art und Weise, wie wir etwas bisher betrachtet, bewertet, empfunden und gemacht haben, so zu verändern, dass eine veränderte Betrachtungsweise, Vorstellung, Empfindung und damit auch ein anderes Vorgehen entsteht. Aber ganz so leicht scheint so ein Veränderungsprozess nicht abzulaufen. Allzu oft bleiben wir in den alten Mustern hängen, die unser bisheriges Denken, Fühlen und Handeln bestimmt haben.
Es ist deshalb sehr leicht daher gesagt, eine Veränderung zu fordern. Die Bereifung eines Autos ist schnell zu ändern. Aber nicht das, was sich in den Köpfen der Menschen an Vorstellungen über »optimale« Erziehung und Bildung einmal eingegraben hat. Und ebenso wenig das, was eine Gesellschaft im Verlauf der Zeit alles an Strukturen, Zuständigkeiten, Ämtern, Vorschriften oder Einrichtungen zur Gewährleistung von Erziehung und Bildung herausgeformt hat.
Allen Beteiligten ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Viele verantwortungsbewusste Eltern versuchen, zu Hause oder mit Nachhilfestunden auszugleichen, was in der Schule nicht geklappt hat. Manche Eltern suchen nach Alternativen, schicken ihre Kinder auf Privatschulen oder in Schulen, die reformpädagogische Ansätze umzusetzen versuchen. Manche gründen gemeinsam mit Gleichgesinnten eigene sogenannte Freie Schulen, und manche ziehen mit ihren Kindern in Länder, wo es keine gesetzlich geregelte Schulbesuchspflicht gibt. All das sind individuell gesuchte, aber nicht auf eine grundsätzliche Veränderung unseres gegenwärtigen Bildungssystems ausgerichtete Notlösungen.
Auch die Pädagoginnen und Pädagogen leiden unter den in ihren Bildungseinrichtungen herrschenden Bedingungen. Bezeichnend dafür ist die in dieser Berufsgruppe auffallende Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen.
Viele Lehrer versuchen, ihren Idealen treu zu bleiben und die Schüler so gut wie möglich auf ihrem Weg zu begleiten. Aber bei vielen führt das ständige Anrennen gegen kultusministerielle Vorgaben, gegen Forderungen und Ansprüche von Eltern und gegen das sich ausbreitende Desinteresse der Schüler zu fortschreitender Entmutigung und Resignation. In manchen Schulen gelingt es der Lehrerschaft, ein starkes Team gegenseitiger Unterstützung zu bilden, das sich dann gemeinsam mit den Eltern auf den Weg macht, um neue Unterrichtsformen und Lernmethoden an ihrer Schule einzuführen. Aber selbst dann, wenn das in einer Schule klappt, werden der neue Ansatz und die gefundenen Lösungen selten von anderen, noch nicht einmal von benachbarten Schulen übernommen.
Zu tief sind die alten, in den Köpfen von Eltern und Lehrern einst herausgebildeten Vorstellungen, Haltungen und Einstellungen verankert. Zu sehr ist der überwiegende Teil der Bevölkerung der Meinung, die Schule sei dazu da, Kindern und Jugendlichen das aus ihrer Sicht benötigte Wissen beizubringen, sie zu unterrichten, sie gegebenenfalls auch zu disziplinieren, sie in leistungsstarke und leistungsschwache Schüler einzuordnen und ihre Leistungen durch die Vergabe von Zensuren zu bewerten. Und solange diese Vorstellung von einer Mehrheit der Bevölkerung, von weiterführenden Ausbildungseinrichtungen und von führenden Vertretern der Wirtschaft geteilt und sogar eingefordert wird, können auch Politiker – wenn sie wiedergewählt werden wollen – nichts anderes tun, als ihre Entscheidungen und die zur Umsetzung dieser Vorstellungen dienenden Verwaltungsstrukturen an dieser alten Denkweise auszurichten. So bleibt dann zwangsläufig alles beim Alten, nicht weil es gut ist, sondern weil es so schwer veränderbar ist. Bereits kleinere Reformversuche scheitern am Widerstand all jener, die ihre Überzeugungen oder ihre Positionen dadurch bedroht fühlen. Es reicht also nicht, gute Ideen hervorzubringen, wie unser gegenwärtiges Bildungssystem verändert werden müsste. Und es wird auch nicht gelingen, diese Ideen praktisch umzusetzen, solange dieses enorme Beharrungsvermögen, diese bemerkenswerte Änderungsresistenz in den Gehirnen und in den bereits existierenden Verwaltungs- und Organisationsstrukturen aufrechterhalten wird. Was also für die notwendigen, tief greifenden Veränderungen gebraucht wird, sind Ideen, wie sich diese einmal entstandenen Denkmuster und Organisationsstrukturen infrage stellen und durch neue Ansätze ersetzen lassen (aus Education for Future, 2020, Goldmann Verlag).
»Andreas Winter liefert mit seinem vorliegenden Buch eine solche Idee. Er zeigt den Beteiligten eine Möglichkeit, aus der Schulzeit, so wie sie ist, das Beste zu machen, um dann vielleicht ›von innen heraus‹ das Bewusstsein für einen Wandel herbeizuführen.«
Prof. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe, Hirnforscher und Autor Göttingen, im Februar 2020
Vorwort des Autors
Ich habe als Schüler keine Hausaufgaben gemacht, oft den Unterricht geschwänzt (ganz ohne Klimaschutz-Ambitionen), nie für Klassenarbeiten geübt und hatte zwischenzeitlich die schlechtesten Noten, die das deutsche Schulsystem hergibt. Ich hatte sogar in einem Zeugnis neben Mathe auch eine Sechs in Sport und in Kunst – so ein Chaos muss man erst einmal hinbekommen! Dennoch habe ich letztlich – ohne sitzen zu bleiben – ein Zweier-Abitur gemacht und mit Erfolg mein wissenschaftliches Studium abgeschlossen. Ich bin kein Wunderknabe und ich habe auch keine einflussreiche Mafia-Familie. Dennoch kann man stressfrei durch die Schulzeit kommen. Wie das geht, möchte ich hier erläutern. Dieses Buch richtet sich an Schüler aller Jahrgangsstufen. Da Schüler jedoch erfahrungsgemäß gar keine Ratgeber zum Überwinden von Schulproblemen lesen, schreibe ich es also für Sie, die Eltern, in der Hoffnung, dass Sie damit Ihren Kindern helfen können, die Schule gelassen und erfolgreich zu meistern. Erwähnen Sie Ihrem Kind gegenüber beiläufig, dass Sie ein Buch gelesen haben, von dem Sie nicht möchten, dass es dieses jemals in die Finger bekommt. Und wenn es Sie nach dem Warum fragt, sagen Sie: »Weil du danach die Schule nicht mehr ernst nehmen würdest. Weil der Autor schreibt, dass er selbst als Schüler miese Noten gehabt, keine Hausaufgaben gemacht, manchmal den Unterricht geschwänzt und sein Abi mit Selbsthypnose gemacht hat. Und deswegen habe ich etwas Angst, dass du das Buch liest und dann gar nichts mehr machst.« Das müsste eigentlich ausreichen, um Ihr Kind wie einen Flitzebogen zu spannen und darauf neugierig zu machen, was denn wohl in diesem ominösen Buch stehen mag. Und wenn du, lieber Schüler, das Buch nun aus lauter Neugier doch bis hierhin gelesen hast und somit auf meinen Trick hereingefallen bist, dann kannst du jetzt auch einfach weiterlesen ;-).
Ich möchte Sie an dieser Stelle im Übrigen darauf hinweisen, dass ich mit diesem Buch nicht das Schulsystem verändern will, obwohl das sicherlich sinnvoll wäre. Auch suche ich die Ursache für Schulschwierigkeiten nicht bei den Lehrern und Eltern, sondern setze an einer ganz anderen Stelle an: bei der sogenannten Leistungsgesellschaft. Diese macht den Druck auf Lehrer, Schulleiter, Eltern und letztendlich auf die Schüler! Es geht um die Bedingungen des Unterrichtens und die Strukturen, in denen Lehrer arbeiten müssen. Selbst die engagiertesten Lehrer – und es gibt sehr viele davon (!) – stehen teilweise vor der Kapitulation aufgrund dieser Umstände.
Das Tragische: Bei Ihrem Kind wirkt sich dieser Druck am stärksten aus, seelisch und gesundheitlich.
Das Gute: Genau dort können Sie direkten und sofortigen Einfluss ausüben. Und es empfiehlt sich auch, denn wenn Ihr Kind eines Tages ganz gelassen die Schule rockt und mühelos gute Noten kassiert, dann haben Sie ein Problem weniger.
Wer hat etwas von der Schule?
»Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben« – mit diesem Satz versuchten Generationen von Lehrern und Eltern, ihre Schützlinge davon zu überzeugen, dass sie selbst einen Nutzen vom Lerninhalt hätten. Mal ehrlich: Hat das bei Ihnen damals geklappt, haben Sie das je geglaubt? Oder lernen wir nicht alle eher aus Angst, Ärger zu kriegen oder keine Arbeit zu bekommen?
Wer hat mehr Angst vor dem nächsten Zeugnis, Ihr Kind oder eher Sie? Graut es Ihnen nicht schon angesichts der üblichen Moralpredigt, die Sie pflichtbewusst, aber verzweifelt Ihrem Kind demnächst halten müssen, nur weil es wieder in den wichtigsten Fächern schlecht benotet wurde? Oder nehmen Sie sich vor, den Lehrern mal ganz gründlich Ihre Meinung zu sagen und sie auf ihre pädagogischen Pflichten hinzuweisen? Vielleicht bereiten Sie sich auch schon innerlich darauf vor, einem schlecht