Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?


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Kritik am Pazifismus schlossen Marxisten-Leninisten eine Zusammenarbeit mit Pazifisten nicht a priori aus.285 Im Kampf gegen den Imperialismus konnte eine solche Kooperation durchaus von Nutzen sein.

      Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass der Marxismus-Leninismus zwei Arten von Frieden unterscheidet: einen «Frieden auf Zeit», auch «Friedliche Koexistenz» genannt, sowie einen «ewigen Frieden». Letzterer gilt als unerreichbar, solange auf der Welt unterschiedliche gesellschaftliche Klassen existieren. Der «Frieden auf Zeit» wird wie der Krieg als ein Mittel zur Durchsetzung der politischen Interessen einer bestimmten Klasse beziehungsweise eines bestimmten Staates angesehen.

      Stefan Wiederkehr

      Die Definition und die Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» [russ. «cholodnaja vojna»] im Ostblock unterlagen während der hier interessierenden Periode einem historischen Wandel. Dieser widerspiegelte die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Ideologie im sowjetischen Herrschaftsbereich nach dem Zweiten Weltkrieg sowie das aussenpolitische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.

      Die eben gemachte Aussage beruht auf der Analyse von Begriffsdefinitionen in sowjetischen Enzyklopädien und Lehrbüchern. Offizielle Begriffsdefinitionen haben in geschlossenen Gesellschaften – wie der sowjetischen – normativen Charakter. Daher lässt sich anhand des Eintrags «Kalter Krieg» in Referenzwerken die offizielle sowjetische Sicht auf den Kalten Krieg rekonstruieren. Als besonders aufschlussreich erweisen sich dabei die feinen Veränderungen zwischen verschiedenen Auflagen desselben Werkes.287

      Der Terminus «Kalter Krieg» ist im Russischen eine Entlehnung. Er wurde

      1946/47 nach dem Auseinanderbrechen der Siegerkoalition des Zweiten Weltkriegs im angelsächsischen Sprachraum geprägt und hatte sich noch vor Ende der 1940er-Jahre in der westlichen Publizistik fest etabliert. Die sowjetischen Enzyklopädien und Wörterbücher der Stalin-Zeit enthielten noch keinen Eintrag «Kalter Krieg». Der Vorwurf, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bereiteten einen neuen Weltkrieg gegen die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten vor, wurde in Reden und Leitartikeln zwar oft und vehement vorgetragen, aber der Ausdruck «Kalter Krieg» wurde in diesem Zusammenhang kaum je benützt.

      Der Grund dafür ist in der Tatsache zu sehen, dass Stalin grundsätzlich an Lenins These festhielt, «heisse» Kriege seien unausweichlich, solange kapitalistische Staaten existierten. Es blieb daher kein ideologischer Raum für die Vorstellung von einem fortdauernden Zustand des «Kalten Kriegs».288

      Zwei Jahre nach Stalins Tod fand der Begriff «Kalter Krieg» erstmals Aufnahme in ein sowjetisches Referenzwerk. Das «Enzyklopädische Wörterbuch» definierte «Kalten Krieg» 1955 als eine «Erscheinungsform der aggressiven Abenteurerpolitik, die der Block der imperialistischen Staaten unter Führung der USA, die nach der Weltherrschaft streben, seit Beendigung des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) führt». «Ziel des ‹Kalten Kriegs›», so hiess es weiter, «ist die Vorbereitung eines Kriegs gegen die Länder des demokratischen [d. h. sozialistischen, d. Vf.] Lagers.»289 Wie stets in der sowjetischen Periode kennzeichnen an dieser Stelle Anführungszeichen den Begriff «Kalter Krieg» als Sprachgebrauch des Gegners.290

      Bereits zwei Jahre später, nach der «Geheimrede» Chruščevs am XX. Parteikongress der KPdSU, die die Entstalinisierung einleitete, erschien der Vorwurf an die andere Seite in deutlich abgeschwächter Form: Die «Grosse Sowjetenzyklopädie» bezichtigte in ihrer zweiten Auflage (1957) nicht mehr die Staaten selbst, sondern nur noch die «reaktionären Kreise der imperialistischen Mächte» eines «aggressiven politischen Kurses». Dem kapitalistischen Lager wurde nicht mehr unterstellt, die Weltherrschaft anzustreben und einen Krieg «tout court» vorzubereiten, sondern nur noch die Absicht, «keine friedliche Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zuzulassen» und die «Umstände für die Entfesselung eines neuen Weltkriegs» vorzubereiten. Schliesslich wurde die gegnerische Politik nicht mehr als «Abenteurerpolitik» qualifiziert, sondern daran gemessen, ob sie die nach sowjetischer Lesart «allgemein anerkannten Normen der diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten» verletze.291

      Es war ein ideologischer Wandel, der es der sowjetischen Seite nach dem Tode Stalins möglich machte, die westliche Nachkriegspolitik als «Kalten Krieg» zu bezeichnen: An die Stelle der These von der Unausweichlichkeit des Kriegs, solange der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus existiert, trat unter Chruščev die Doktrin der «Friedlichen Koexistenz» der sozialistischen und der kapitalistischen Staaten. Das Parteiprogramm der KPdSU von 1961 erklärte diese zur «objektiven Notwendigkeit in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft».292 Die sowjetische Führung bewältigte auf diese Weise ideologisch die Tatsache, dass die Gefahr eines Atomkriegs die beiden Supermächte zu einer begrenzten Zusammenarbeit und zu einem Nebeneinander der gesellschaftlichen Systeme zwang.

      Im Gleichschritt mit der Verringerung des Rückstandes im Rüstungswettlauf wuchs in den folgenden Jahren das Selbstvertrauen der sowjetischen Seite. Die sowjetischen Referenzwerke stellten die Entspannung des Verhältnisses zwischen den beiden Supermächten als Resultat der Friedensbemühungen des sozialistischen Lagers und als Folge seines Machtzuwachses dar. In der «Grossen Sowjetenzyklopädie» war bereits 1957 die Rede «von der konsequent verfolgten friedliebenden Politik der Stärkung der internationalen Sicherheit und der Entspannung»293 der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Die Verfasser des «Diplomatischen Wörterbuches» formulierten aber sieben Jahre später noch immer im Konjunktiv, dass der «Triumph» der Politik der Friedlichen Koexistenz «die Völker von der Drohung des Kriegs erlösen würde».294 In der nächsten Auflage (1973) hingegen stellten sie befriedigt fest, dass «die USA und die übrigen westlichen Mächte unter dem Einfluss […] der Veränderung des Kräfteverhältnisses in der internationalen Arena gezwungen waren, ihre Politik immer mehr den neuen Realitäten des Friedens anzupassen und von den hinfälligsten Dogmen des ‹Kalten Kriegs› abzurücken».295 Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki sollte 1978 die dritte Auflage der «Grossen Sowjetenzyklopädie» den «Kalten Krieg» gar als beendet bezeichnen.296

      Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die sowjetische Seite den Terminus «Kalter Krieg» erst nach dessen erstem Höhepunkt überhaupt aufgriff und dass sie diesen sehr früh aus der Retrospektive betrachtete – als ein Phänomen, das dank den eigenen Friedensanstrengungen im Abklingen begriffen war oder deswegen zumindest prinzipiell überwunden werden konnte. Allerdings muss betont werden, dass der Ostblock jederzeit mit einem Rückfall des Westens in aggressives Verhalten rechnete und mit Vehemenz auf internationale Krisen wie beispielsweise den Abschuss eines amerikanischen U-2-Aufklärungsflugzeuges über Sverdlovsk 1960 reagierte.297

      Der Katalog der Methoden des «Kalten Kriegs», deren sich der Feind nach sowjetischer Auffassung bediente, gewann im Lauf der Zeit stetig an Länge, aber auch an Banalität: Neben militärischen Aspekten im engeren Sinn wie der Bildung von Militärblöcken, dem Wettrüsten und der nuklearen Einschüchterung souveräner Staaten zählte die «Grosse Sowjetenzyklopädie» 1978 schliesslich, um nur einige Beispiele zu nennen, Handelsdiskriminierung, nachrichtendienstliche Tätigkeit, antikommunistische Propaganda und die Verhinderung des Aufbaus kultureller Beziehungen zum «Arsenal der Methoden» des Gegners.298 Die sowjetische Definition des «Kalten Kriegs» versachlichte sich allmählich, sie wurde sprachlich emotionsloser und bürokratischer. Diese Veränderung hing einerseits mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen den Supermächten zusammen, andererseits entsprach sie einer generellen Entwicklung der sowjetischen Propagandasprache: Typisch für deren Abkehr vom agitatorischen Hetzstil der Zwischenkriegszeit ist unter anderem die Tendenz zu mehrgliedrigen, voraussagbaren Ausdrücken und zu inhaltsleerer Formelhaftigkeit.299

      Insgesamt lassen sich in der Rezeptionsgeschichte des Begriffs «Kalter Krieg» in der Sowjetunion zwei Hauptperioden unterscheiden:

      Auf dem realen Höhepunkt der Systemkonfrontation zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs einerseits und dem Ende des Koreakriegs sowie dem Tod Stalins andererseits