herein. Die Studenten gehen auf die Barrikaden und fordern basisdemokratische Reformen. Ihr gewaltsamer Aufruhr erschüttert das Land, zerschmettert aber neben Mobiliar und sonstigen Sachgütern auch einige Verkrustungen, die der bürgerliche Konservatismus mit seinem bequemen Obrigkeitsgehorsam erzeugt hatte. Obwohl der neue Drang nach individueller Freiheit bald nachlässt und die heftigen Proteste wirkungslos zu verpuffen scheinen, setzt die Bewegung doch ein markantes Mahnzeichen für die gesamte Kultur. Weizsäcker sieht sich allerdings mit Verhaltensweisen konfrontiert, die ihm nur mit äußerster Selbstbeherrschung erträglich sind. Wie er als Vertreter des „Establishments“ attackiert wird, obwohl er in ausgeprägt liberaler Haltung wirklich gesprächsbereit ist, raubt ihm fast den Atem. Als die Sowjetunion im August 1968 die Tschechoslowakei besetzt, kommt zu diesen Unannehmlichkeiten noch ein stärkeres, politisches „Todeserlebnis“. Jetzt ist er fest davon überzeugt, dass ein Dritter Weltkrieg kommen wird, vermutlich unter Einsatz atomarer Waffen.
Nach diesen Ereignissen kann die Gesellschaft nicht mehr so einfach zur gewohnten politischen Sorglosigkeit übergehen. Viel zu lange war die reale Gefahr des Militarismus und der Rüstungswettläufe aus dem Blickwinkel geraten. Als ausgezeichneter Kenner der politischen Strukturen und Mechanismen, auch der einseitigen militärischen Denkweisen, empfindet Carl Friedrich von Weizsäcker sehr deutlich die enorme Bedrohung. Er ist also durchaus pessimistisch gestimmt, hält es aber für seine erste Pflicht, daran mitzuwirken, die Katastrophe zu verhindern.
1969 übernimmt Weizsäcker den Vorsitz im Verwaltungsrat des Deutschen Entwicklungsdienstes. Er hat klar erkannt, welche Verantwortung westliche Wissenschaft und Technik gerade für die Dritte Welt tragen, und möchte direkte Erfahrungen sammeln. So reist er im November 1969 für fünf Wochen nach Indien, wo er am Ende sogar ein außergewöhnliches religiöses Erlebnis hat. Außerhalb des Protokolls besucht Weizsäcker auch drei Ashrams und das Grab von Ramana Maharshi, einem von den Hindus hoch verehrten Heiligen. An diesem Ort erlebt er eine blitzartig hereinbrechende Bewusstseinsveränderung, die sich mit Worten kaum beschreiben lässt. In diesem Moment sind alle seine Fragen beantwortet.
1970 bis 1980
Die Siebzigerjahre umfassen die letzte Phase in Weizsäckers aktiver Berufstätigkeit. Wiederum fängt er etwas völlig Neues an und zieht mit seiner Frau Gundalena nach Starnberg bei München um. Zielstrebig hat er seit Jahren auf den Wechsel hingearbeitet. Gemessen an seiner inneren Verfassung, am aktuellen Entwicklungsstand seines Bewusstseins, ist dies ein konsequenter Schritt. Weizsäckers zentrales Anliegen ist von nun an die „Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“. Wie wichtig ihm diese Thematik war, erkennt man schon daran, dass die Max-Planck-Gesellschaft das neue Institut auf ihn zugeschnitten gründet. Damit dieses „Institut für unbequeme Fragestellungen“, wie es später scherzhaft auch genannt wurde, überhaupt in Betrieb gehen kann, muss sich Weizsäcker erst gegen die Lobby der chemischen Industrie durchsetzen und zusichern, sich nicht mit Zukunftsprognosen zu beschäftigen. Als wissenschaftliches Ziel gibt er Konfliktanalysen an. Sich selbst muss er die Gefahr eingestehen, mit den hier bearbeiteten gesellschaftspolitischen Themen lediglich einen „engagierten Dilettantismus“ zu betreiben. Immerhin bringt ab März 1970 Jürgen Habermas als Co-Direktor seine soziologische Kompetenz mit ein.
Nebenher schreibt Weizsäcker eine Reihe von Büchern: 1971 erscheint „Die Einheit der Natur“, eines seiner Hauptwerke, 1975 „Fragen zur Weltpolitik“, 1976 „Wege in der Gefahr“. „Der Garten des Menschlichen“ (1977) enthält gewissermaßen einen Querschnitt seiner Erkenntnisse und Überzeugungen, auch seiner persönlichen Lebenserfahrung im Fortlauf der zeitgeschichtlichen Entwicklung.
Die systemkritische Haltung erreicht in dieser Dekade wohl den Gipfelpunkt. Weizsäcker setzt alle Kraft dafür ein, die Gesellschaft erneut daran zu erinnern, dass ein großer Bewusstseinswandel lebensnotwendig ist. Sein Denken hat sehr wohl auch praktische Relevanz, denn er zeigt die Fallstricke auf, die den notwendigen Wandel verzögern. Ein aktiver Politiker, der Amt und Partei verpflichtet ist, kann und will er aber nicht sein. Dafür sind seine Freiheitsliebe, seine tolerante Haltung und auch seine Zurückhaltung viel zu stark ausgeprägt. Als Philosoph weiß er zu genau, wie verfänglich alle Ideologien wirken, wie sie aufgrund innerer Widersprüche zu Gewalt und Verderben führen und Menschen unfrei machen. Weizsäcker ist und bleibt ein unabhängiger Denker, der gehört und respektiert wird.
1981-2007
Weizsäckers „Ruhestand“ ist durch eine weiterhin hohe Arbeitsintensität und einen prall gefüllten Terminkalender geprägt. Zunächst scheint der religiöse Glaube ein vorherrschendes Thema zu sein, aber keineswegs in privater Zurückgezogenheit, sondern als konkreter Einsatz für den Weltfrieden. Weizsäcker schwingt sich noch einmal zu einer außerordentlichen geistigen und physischen Kraftanstrengung auf, indem er das Konzept für ein umfassendes „Christliches Friedenskonzil“ entwirft. Die Vorbereitungen dazu beginnen beim Evangelischen Kirchentag 1985 in Düsseldorf. Weizsäcker ist als Fachmann zur Veranstaltung eingeladen worden und hat den Text mit erstaunlicher Klarheit formuliert. Sein Grundgedanke war nicht nur ökumenischer Art, vielmehr waren alle geistigen Kräfte dazu aufgefordert, an einem Strang zu ziehen und sich wirkungsvoll für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Wieviel Mühe es letztlich kostete, auch in der Praxis Einigkeit zu erzielen und die organisatorischen Probleme zu lösen, sieht man daran, dass die „Weltversammlung der Christen“, so wurde das beabsichtigte Friedenskonzil nun genannt, erst 1990 in Seoul (Südkorea) stattfand.
Von 1990 bis 1992 erscheinen zahlreiche Bücher, die jedoch meist nur ältere Texte neu zusammenfassen. Gewissermaßen als Krönung seines naturwissenschaftlichen Forschens bringt Weizsäcker 1992 schließlich ein 1184 Seiten starkes Werk heraus, das sein Weltbild in noch größere Zusammenhänge stellt. Auf Basis der maßgeblich selbst entwickelten Theorie der Ur-Alternativen wird ein integraler philosophischer Entwurf präsentiert, wobei es gelingt, die gesamte objektive Welt und alle Bereiche des menschlichen Bewusstseins mit einzubeziehen. Der Titel des Werkes lautet „Zeit und Wissen“.
Eine sehr markante Zeitmarke des „Ruhestands“ ist Weizsäckers 85. Geburtstag im Jahr 1997. Er wird im würdigen Rahmen gefeiert. Bundespräsident Roman Herzog hält die Festrede. Darin lässt er wichtige Lebensstationen Revue passieren und kommt nicht umhin, seine „aufrichtige Bewunderung“ mit den Worten zu umschreiben: „Sie sind für mich … der Inbegriff des Universalgelehrten.“ Dies ist ein Lob, das angesichts des zu würdigenden Lebenslaufes keineswegs übertrieben klingt. Herzog betont außerdem Weizsäckers Status als Mitglied einer verantwortungsvollen Elite, die durch Wissen und Leistung hervortritt und sich die besondere Fähigkeit erworben hat, ein Vorbild für viele Menschen zu sein.
In den Neunzigerjahren setzt sich Weizsäcker vor allem für einen radikalen Pazifismus ein, äußert seine Einsichten weiterhin als Autor und gelegentlich noch als Redner. Seinen Lebensabend verbringt er zurückgezogen in Söcking, unweit des Starnberger Sees. Von schwerer Krankheit gezeichnet, ist er am 28. April 2007 verstorben.
Carl Friedrich von Weizsäcker strahlte eine ungewöhnlich starke geistige und moralische Autorität aus, bei aller persönlich gepflegten Bescheidenheit. Trotz ungewöhnlich weit gespannter Interessen waren seine Prioritäten im Leben recht klar definiert: An erster Stelle rangierte stets die Wissenschaft, und im Verbund mit ihr die philosophische Suche nach hilfreichen Erkenntnissen.
Physik
Die Grundprobleme
Was macht den Physiker Weizsäcker aus? Was bedeutet ihm die Physik?
Weizsäckers Neigung zur Naturwissenschaft war sehr früh in dem neugierigen Kind angelegt. In der Schule stellte sich auch bald die besondere Begabung für Physik und Mathematik heraus.
Versetzen wir uns für einen Moment in die Zwanzigerjahre zurück. Ein biografischer Kunstgriff soll uns dabei behilflich sein, denn das verfügbare Material zur Person ist eher dürftig. Aus eigenen Berichten Weizsäckers und aus Äußerungen von nahestehenden Menschen, mit etwas Fantasie zum Leben erweckt, lässt sich folgende kleine Geschichte konstruieren:
Ort