zwar als Negativfolie für das vernunftgeleitete erhabene Gruseln des ästhetischen Betrachters und Wanderers. Dabei handle es sich um eine «Verwunderung, die an Schreck grenzt», schrieb Kant, ein «heiliger Schauer», der jedoch dazu anrege, über die menschlichen Möglichkeiten nachzudenken.95
Jedenfalls fand die Idee, ins Gebirge zu reisen, um sich dort aus sicherer Entfernung zu gruseln, im 18. Jahrhundert grossen Anklang beim gebildeten Publikum. Englische Adelige auf Grand Tour etwa beschrieben die Alpen zwar immer noch auf althergebrachte Weise als unwirtliches Chaos, verwiesen nun aber auch auf die «köstlichen Schrecken», die sie angesichts dieser Wildheit empfanden.96 Und manche Reisende spielten richtiggehend mit diesem Gruseln, indem sie sich mit verbundenen Augen an den tiefsten Abgründen vorbeiführen liessen.97 Die Alpen als Geisterbahn: Mancher Bergschlund mag dadurch noch um einiges grausiger und interessanter geworden sein. Es handelte sich dabei nicht bloss um ein Spiel mit der Angst, die vermutlich zum einen oder anderen angenehmen Adrenalinstoss verhalf, sondern auch um ein Spiel mit der visuellen Wahrnehmung und der Fantasie, das belegt, wie wichtig das Schauen im Vergleich zu anderen Erkenntnismöglichkeiten inzwischen geworden war. Das Betrachten von Landschaften, seien sie nun schön oder grausig, war zu einer als besonders kultiviert geltenden Beschäftigung geworden: Man glaubte, durch den Anblick der Alpen eine lehrreiche Erfahrung machen zu können.
VOM BÜHNENBILD ZUM GEBIRGSPANORAMA
Die Vorstellung, die Berge seien hauptsächlich etwas zum Anschauen, und die Begeisterung für das visuelle Erleben von Landschaften wurden allerdings weniger durch philosophische Schriften popularisiert als durch das Aufkommen der Druckgrafik, die die serielle und kostengünstige Herstellung von Landschaftsbildern ermöglichte, durch die Verbreitung von Reiseberichten und nicht zuletzt dadurch, dass im 18. Jahrhundert auch im Theater «wilde» Landschaften als Bühnenbild in Mode kamen.98 Im Theater bekamen breite Bevölkerungskreise Landschaftsmalerei zu sehen, die bisher jener kleinen, reichen Klasse vorbehalten gewesen war, die sich Kunstwerke leisten konnte. Umgekehrt wurde die reale Berglandschaft nicht selten als Theaterkulisse wahrgenommen beziehungsweise in Analogie dazu beschrieben. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zum Beispiel beschrieb Berglandschaften mit den Begriffen «clair-obscur», Perspektive und Lichteinfall und eine Wanderung als Serie von interessanten Szenen, «qui semblaient m’être offertes en un vrai théâtre».99 Er schrieb von «Tausende[n] von erstaunlichen Spektakeln» und vom Vergnügen, bizarre, fremde Tiere und Pflanzen zu sehen, kurz: Er pries die Gegend an, als handle es sich um ein aufsehenerregendes Jahrmarktsvergnügen – dabei hatte er kurz zuvor in einer anderen Schrift die Institution Theater als unsittlich und überflüssig verurteilt.100
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kamen Gebirgspanoramen in Mode und wurden in vielen europäischen Grossstädten zur Schau gestellt. Es handelte sich dabei sozusagen um verselbständigte Bühnenbilder: Die Landschaft wurde darin zum eigentlichen Akteur, es gab keine Handlung im Vordergrund mehr. Diese Panoramen boten eine Möglichkeit, das Gebirge zu «erleben», ohne dorthin reisen zu müssen. Oft handelte es sich auch um so genannte «Dioramen», transparente Gemälde, auf denen mit Lichteffekten die Illusion von Bewegung geschaffen werden konnte. Wechselnde Tageszeiten und Wetterlagen wurden zur «Handlung» auf diesen «Bühnen». Ein berühmtes schweizerisches Beispiel eines solchen Dioramas war das «Panorama des Alpes Suisses», das vom Genfer Benjamin Henneberg «betrieben» wurde und 1893/94 an den Weltausstellungen in Chicago und Antwerpen und 1896 an der Landesausstellung in Genf gezeigt wurde. Dieses eher späte Beispiel belegt, wie lange diese Darstellungsform in Mode blieb. Panoramen wurden jedoch in Form von Zeichnungen oder Fotos auch in viel kleinerem Format gedruckt. Diese grossen oder kleinen «leeren Bühnenbilder» eigneten sich bestens dazu, von den Betrachtern mit eigenen Fantasien gefüllt zu werden und erwiesen sich als gute Werbung für tatsächliche Bergreisen.101
Alpenreisende, die dem Reisestil des ästhetischen Landschaftserlebnisses folgten, verfügten also in der Regel über ein umfangreiches Vorwissen darüber, welche «Szenen» und «Bilder» es in den Bergen anzuschauen galt. Und wer ein Panorama «in freier Natur» sehen wollte, der begab sich am besten auf eine Anhöhe, wenn nicht gar auf einen Gipfel. Dies verschaffte den dem Panorama eigenen gewünschten Überblick aus der Distanz. Das tatsächliche Involviertsein in die Landschaft, die Teilnahme am dort stattfindenden Leben war demgegenüber weniger gefragt und allenfalls bloss Mittel zum Zweck.102 Das oben stehende Individuum konnte sich als Beherrscher der unter ihm liegenden Landschaft fühlen, das blosse Anschauen erhielt den Beigeschmack von Entdecken und Erobern. Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt nennt diese Art des Schauens den «imperialen Blick», der im Betrachter das Gefühl erzeuge, «the monarch of all I survey» zu sein.103
DER BEHERRSCHENDE BLICK VOM GIPFEL
Es gehört zu den Stereotypien alpinistischer Tourenberichte, dass der Blick vom Gipfel beschrieben werden muss; die Erfüllung dieses Punktes ist geradezu ein Kriterium, nach dem die alpinistische Diskursgemeinschaft darüber befindet, ob die Berichterstatter tatsächlich oben waren beziehungsweise ob sie «richtige» Alpinisten sind. Angeville schloss Marie Paradis unter anderem aufgrund dieses Kriteriums als Erstbesteigerin des Montblanc aus, indem sie darauf hinwies, jene habe auf dem Gipfel oben vor lauter Erschöpfung nichts gesehen.104 Sie selbst erfüllte die Konvention hingegen aufs beste, indem sie, gebildet wie sie war, das Panorama in den Begriffen von Malerei und Theater beschrieb und meinte, der Gipfel des Montblanc gleiche einem Museum, dessen Besuch die mutigen Reisenden für ihre Mühen entschädige.105 Wie Petrarca freute sie sich, ihre Heimat – den Jura und Genf – zu sehen. Die dabei aufkommenden patriotischen Gefühle hielt sie allerdings anders als er nicht für zu zärtlich, sondern sie beschrieb, wie sie den Konventionen des alpinistischen Diskurses folgend mit dem Blick der Feldherrin das von ihr «eroberte» Gebiet in Besitz nahm.106 In ihrem unterwegs geführten Tagebuch hingegen hielt sie eine ambivalentere Version des Erlebten fest. Enttäuscht schrieb sie, sie habe nur die näher gelegenen Berge gesehen: «Audelà des monts, je n’ai rien vu, mais rien, rien, rien, ni la Lombardie, ni l’Adriatique, ni Venise, ni Milan. Pourtant le jour était radieux, ma vue longue et ma lunette excellente. Ah! Mes prédécesseurs, quels yeux ou quelle foi vous avez!»107 Offenbar hatte sie bereits fixe Erwartungen gehabt, was sie eigentlich hätte sehen müssen, und obwohl sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrung an dem zu zweifeln begann, was sie von anderen gelesen hatte, hütete sie sich, ihre Enttäuschung öffentlich zuzugeben. Lieber präsentierte sie sich als unproblematische Beherrscherin des Panoramas.
WISSENSCHAFTLICHE EXPEDITIONEN: JOHANN JAKOB SCHEUCHZER UND HORACE-BÉNÉDICT DE SAUSSURE
Der wichtigste Reisestil des frühen Alpinismus war die wissenschaftliche Expedition. Im 16. Jahrhundert begannen sich neben den Philosophen auch zahlreiche Naturforscher für die Berge zu interessieren, so etwa der Zürcher Arzt Konrad Gessner (1516–1565), der 1541 die Alpen als ideales Forschungsobjekt pries.108 Direkt vor Ort wollte man Beobachtungen über die Beschaffenheit der materiellen Welt sammeln, alles Denkbare messen, erproben und kategorisieren. Die Alpen wurden dabei gewissermassen zum «Buch des Lebens», in dem Forscher nach Erkenntnissen suchten, im Dienste eines aufgeklärten Glaubens an den Fortschritt und an die Möglichkeit einer rationalen Erklärung der Welt zum Nutzen der Menschheit oder zumindest der eigenen Nation. Über das Gefundene berichteten sie in Form von Reiseberichten. Inzwischen ist diese Darstellungsform in den Naturwissenschaften unüblich geworden, doch damals beanspruchte der Reisebericht einen hohen wissenschaftlichen Status, galt er doch als Beweis, tatsächlich «im Feld» gewesen zu sein und eigene Beobachtungen und Experimente gemacht zu haben – eine zentrale Forderung der neuen Wissenschaft, durch die sie sich von älteren Formen der Gelehrsamkeit absetzte, die das Studium der Schriften alter Autoritäten vorzogen.109 Zudem war die möglichst mühsame und abenteuerliche Feldforschung auch ein wichtiges Initiationsritual der scientific community – ein bis heute zu beobachtendes Phänomen. Bergtouren bilden in mancher dieser wissenschaftlichen Reiseberichte den Kulminationspunkt der gesamten Erzählung und dienen als Symbol der gesamten Forschungsarbeit, auch wenn die meiste Erkenntnis nicht auf den Gipfeln oben gewonnen worden war. Im folgenden Abschnitt stelle ich zwei Forscher vor, auf welche spätere Alpinisten immer wieder verwiesen, auf den einen als Beispiel einer vormodernen Wahrnehmung