Buch «Matériaux pour servir à l’étude des glaciers» aufzeichnete, sie hätten Dora d’Istria damals gar nicht wirklich auf den Mönch geführt.257 Jaun erzählte, er sei erstaunt gewesen, dass eine Frau bergsteigen wollte, erwähnte aber – anders als die Gräfin – nichts davon, dass er oder seine Kollegen versucht hätten, sie von ihrem Plan abzuhalten. Detailliert und abschätzig kolportierte er hingegen, dass die Dame so weit wie möglich per Sänfte habe transportiert werden wollen und anschliessend abwechslungsweise geschoben, gezogen und getragen habe werden müssen – für ihn vermutlich Beweis genug, dass sie nicht als «richtige» Bergsteigerin gelten konnte. Zudem habe sie bis zum Erbrechen unter Höhenkrankheit gelitten, und schliesslich habe er, Jaun, beschlossen, es sei Zeit zur Umkehr, da ein längeres Verweilen in der Höhe wegen des kalten Wetters für die schlechter ausgerüsteten Führer gefährlich geworden wäre. Allerdings sei es unter den Begleitern der Gräfin diesbezüglich zu Meinungsverschiedenheiten gekommen: Während die einen geprahlt hätten, noch weiter gehen zu können, hätten er und Lauener beschlossen, die Gruppe und ihre Kundin notfalls zu verlassen. Das überzeugte die anderen schliesslich. Dora d’Istria habe allerdings darauf bestanden, dass die mitgebrachte Fahne aufgestellt werde, und so habe man diese halt auf einen Grat seitlich des Mönchs gesteckt. Dann hätten sie sich an den Abstieg gemacht.258
Seine Unterschrift auf besagtem Diplom erwähnte Jaun in dieser Erzählung mit keinem Wort, und auch sonst bleiben einige Ungereimtheiten, die kein gutes Licht auf die Führer werfen: Warum nahmen sie eine ihrer Ansicht nach derart berguntaugliche Person überhaupt auf eine Jungfrau-Tour mit? Weshalb kehrten sie nicht früher um? Wie rechtfertigte Jaun, dass er seine Kundin in der Not allein gelassen hätte? Und warum stellte er ihr ein Diplom für ihre Leistung aus? Diese Fragen beantwortete der Bergführer nicht, doch das war offenbar auch gar nicht nötig: Von Alpinisten wurde nie daran gezweifelt, dass die Gräfin wegen ihrer Selbstüberschätzung selber daran schuld war, dass sie von listigen Bergführern übers Ohr gehauen worden war.
Die meisten, die über sie schrieben, kannten Jauns Bericht nicht und hielten die Lage trotzdem für eindeutig: Offenbar war es innerhalb des alpinistischen Diskurses zum Allgemeinplatz geworden, dass Dora d’Istria eine Hochstaplerin sei. Zum Beleg wurde eine ganze Liste von «Beweisen» angeführt: Etwa, dass sie allgemein dazu neigte, sich zu idealisieren – was nicht von der Hand zu weisen, für Bergtourenberichte aber durchaus typisch ist. Weiter, dass sie den Aufstieg auf den eigentlichen Berggipfel in ihrem Bericht zu knapp abhandle. Dann: dass es nicht möglich sei, in so kurzer Zeit vom Gipfel des Mönchs nach Interlaken zu wandern, und dass sie den Blick vom Gipfel – ein must in jedem rechten Tourenbericht – nicht beschrieben habe.259
Tatsächlich unterscheidet sich die Passage der eigentlichen Gipfelbesteigung in ihrem Tourenbericht von der vorhergehenden Beschreibung des Aufstiegs durch Knappheit, und es ist aufgrund ihres Textes durchaus denkbar, dass die Gräfin einen anderen Bergspitz bestiegen und diesen in den Nebelschwaden für den Mönch gehalten hatte. Weiter wird argumentiert, sie habe die Führer mit tausend Franken – für damalige Verhältnisse eine Unsumme – dazu bringen wollen, weiterzugehen; wohl ein Versuch, Jauns seltsames Verhalten zu rechtfertigen.260 Und schliesslich heisst es gar, das von den Bergführern ausgestellte Diplom sei der Beweis, dass Istria nicht wirklich oben war, da es damals unüblich gewesen sei, dass Bergführer ihren Arbeitgebern Diplome ausstellten. Vielmehr hätten die Touristen ihren Führern eine Empfehlung ins so genannte Führerbuch geschrieben.261 Henriette d’Angeville, die ein vom Chamonixer Bürgermeister unterzeichnetes Diplom vorzuweisen hatte, wurde dies nie zur Last gelegt, und es fragt sich ohnehin, ob der Kanon der unter Alpinisten gängigen Beweismittel 1855 schon derart festgelegt war oder ob Dora d’Istria hier nicht im Nachhinein an einer erst später festgelegten, stark geregelten Praxis gemessen wird.262
Mangels brauchbarer Indizien ist die Geschichte um die rumänische Gräfin meiner Ansicht nach weniger eine Detektivgeschichte zur Frage: «War sie oben?» als ein Beispiel dafür, wie zentral das Reden und Schreiben über die gemachten Touren für die symbolische Praxis Bergsteigen war und ist. Und in diesem Zusammenhang erscheint es mir bemerkenswert, mit welcher Vehemenz und welcher Fülle von Argumenten versucht wurde, eine Frau im Nachhinein daran zu hindern, der Nachwelt als Erstbesteigerin eines Berges in Erinnerung zu bleiben. Ein selbstbewusst abgefasster Tourenbericht von einer Autorin, die durch ihre Herkunft und ihr Geschlecht einfach nicht ins Wertesystem der alpinistischen Gemeinde passte, war offenbar eine gewaltige Irritation.
FAHRTENBÜCHER: «ES MUSS MATERIAL FÜR GLORREICHE ERINNERUNGEN GESAMMELT WERDEN!»
Ein publizierter Tourenbericht war Bedingung, um als Erstbesteigerin oder Erstbesteiger anerkannt zu werden. Über die eigenen Unternehmungen zu schreiben, war für die meisten Bergsteiger aber auch bei weniger spektakulären Touren wichtig, und so machten viele von ihnen umfangreiche private Aufzeichnungen in Form von Reisetagebüchern beziehungsweise «Fahrtenbüchern», wie es in Bergsteigerkreisen hiess. Ein aufschlussreiches Beispiel einer solchen Dokumentation befindet sich im Besitz des Schweizerischen Alpinen Museums. Es handelt sich dabei um die 17 handschriftlichen Fahrtenbücher des Berner SAC-Mitglieds Paul Montadon (1858–1948) aus den Jahren 1874 bis 1940.263 Montadon war einer der schweizerischen Pioniere des führerlosen Bergsteigens, und das Klettern war ihm wichtiger als sein Beruf als Bankier – zumindest tönt es im von ihm selbst für die SAC-Zeitschrift verfassten Nachruf so.264 Der umtriebige Alpinist dokumentierte seine Touren in nahezu manischer Genauigkeit auf über 5700 eng beschriebenen Seiten. Zusätzlich führte er verschiedene Listen über «Biwaks, freiwillige» und «Biwaks, unfreiwillig», über Touren zusammen mit seiner Frau und über «Solo-Besteigungen», also Alleingänge.265 Seine Berichte sind in launigem, anekdotenreichem Stil gehalten, als schriebe er für die Zeitschrift einer Studentenverbindung, und so finden sich neben der Dokumentation der eigenen Leistungen auch Berichte darüber, wie er und seine Gefährten dem Bier zusprachen und mit Reisebekanntschaften anbandelten, etwa 1889:
«[…] die anziehenden Touristinnen, mit denen wir uns hernach im Gotthardzug zusammenfanden, verdüsterten unsere Stimmung keineswegs. Funer’s übermenschliche Anstrengungen, sich unwiderstehlich oder doch wenigstens interessant zu machen, indem er Kravatte und Kragen entfernte und eine alte Pfeife zwischen die Zähne steckte, hatten höchstens einen Lacherfolg, und in Brunnen verliessen uns unsere Vis-à-vis, ohne dass es uns schien, als ob ihnen die Trennung sonderlichen Schmerz verursacht hätte. Bergsteiger haben mit mannigfachen Schwierigkeiten zu kämpfen, und auch wir überwanden die Versuchung, die Windgälle aufzugeben und den die Französinnen begleitenden älteren Herrn um Erlaubnis anzugehen, uns ihrer Partie anzuschliessen.»266
Durch die Beschreibung der gemeinsamen Erlebnisse bestätigte Montadon seine Zugehörigkeit zur lustigen Männerclique auf grosser Fahrt und festigte seine Identität als Alpinist, der zwar einem Spass nicht abgeneigt war, aber das höhere Ziel stets im Auge behielt. Er schrieb dabei weniger über allgemeine Ziele des Alpinismus, sondern nutzte die vom alpinistischen Diskurs vorgegebenen Vorstellungen zur privaten Selbstdarstellung. Tagebücher sind ein Mittel zum Erschreiben einer eigenen Identität, denn diese beruht neben der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen zu einem Gutteil auf autobiografischen Erinnerungen. Das war auch vielen Bergsteigern bewusst: Henriette d’Angeville beispielsweise schrieb in ihrem Tagebuch, die geplante Tour auf den Montblanc sei «un immense souvenir à se créer dans la vie», und die deutsche Bergsteigerin Hermine Tauscher-Geduly meinte 1881 im Bericht über eine Tour auf den Piz Bernina: «Vorwärts denn! Es muss ja Material für neue glorreiche Erinnerungen gesammelt werden.»267 Es handelte sich bei diesen Unternehmungen also nachgerade um die gezielte Produktion wünschenswerter Erinnerungen und damit um eine bewusste Technik der Selbstinszenierung: ein Beleg dafür, wie wichtig Ferien und Freizeit – also das Ausbrechen aus dem Alltag – für die Identitätsbildung moderner Menschen war und ist: Ausserhalb der Zwänge des täglichen Lebens und Überlebens kann ausgewählt werden, an was man sich später erinnern kann, welche Identität man sich selbst er-leben will.
Auch im Fahrtenbuch eines weiteren Alpinisten findet sich die Erklärung, dass die Aufzeichnungen der späteren Erinnerung dienen sollten: Der Schneider und Buchhalter Eugen Wenzel (†1989), ebenfalls SAC-Mitglied, führte von 1920 bis 1984 Fahrtenbücher. Im ersten Heft erklärte