Georges Andrey

Der erste Landammann der Schweiz


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Staatsmann war es der erste Versuch des «Unternehmens Charme». Auf gleiche Weise verfuhr er in grösserem Umfang 1802/03 anlässlich der Consulta, wo es ihm gelang, einen Grossteil der Vollmachten der Patrizier wiedereinzurichten und zugleich das brave Volk einzulullen. «Wie dem auch sei, Louis d’Affry zog aus dieser politischen Erfahrung gewisse Lehren, die sich für ihn auszahlten. In dieser recht müssigen Debatte, die sich im Grunde um eine Frage des Vorrangs drehte, gewann er Einsichten, die ihm sehr nützlich werden sollten. Er kehrte zu seinem Metier, der militärischen Laufbahn, zurück. Im Herbst 1782 geht er wieder nach Paris.»93 Anlässlich dieser Abmachungen wurde eine Liste der Mitglieder der fünfzehn als adlig anerkannten Familien der Republik verfasst. Auf ihr befanden sich fünf d’Affrys: Louis Auguste Augustin, Louis Auguste und sein Bruder Jean Pierre Nicolas, der wenig später verstarb, sowie die Söhne des künftigen Landammanns, Charles Philippe und Guillaume.94

      Im Herbst 1782 kehrt Louis nach Paris zurück. «Der Vorhang geht auf für eine andere Kulisse, die der Erfahrung der Liebe. Die Präromantik liegt in der Luft. Ein seltsames Gemisch aus Sentimentalität und Vernunft scheint an die Stelle der leichten Sitten der vergangenen Jahrzehnte zu treten. Auch Louis d’Affry entgeht nicht der lieblichen und grausamen Prüfung einer romantischen Liebe.»95 Ghislain von Diesbach erinnert sich, er sei «den Reizen von Madame de La Briche erlegen, die als junges Mädchen im Grafen d’Affry und Botschafter in Holland ein lebhaftes Gefühl erweckt hatte, aber freilich nun zu alt war, um noch Gefallen zu finden. Louis d’Affry hatte mehr Glück als sein Vater, und seine von der Gesellschaft akzeptierte Liaison mit Madame de La Briche machte ihn zu einem Romanhelden ganz nach dem Geschmack der Zeit.»96 Bei aller Diskretion, die die Familienangelegenheiten umgibt, ahnt man eine Rivalität zwischen Vater und Sohn. Überlassen wir das Wort seiner Nachfahrin, die das Thema der d’Affry’schen Liebesabenteuer mit Feingefühl und Vorsicht behandelt. «Bei Beginn seiner Romanze mit Madame de La Briche ist Louis 37 Jahre alt. Sie zählt 27 Lenze und ist mit einem viel älteren Mann verheiratet, mit dem sie eine Vernunftehe schloss, nachdem auch sie eine unglückliche Liebe hinter sich hatte. Ihr Mann kann ihr nicht die Zärtlichkeit geben, die sie braucht, aber das Paar, das ein glänzendes Gesellschaftsleben führt, gehört zum Freundeskreis der d’Affrys. Adélaïde de La Briche betört nicht so sehr durch ihre Schönheit als mit der Fülle ihrer Qualitäten. ‹Sie fällt nicht durch direkten Glanz auf, aber sie bleibt nicht lange unbemerkt. Wem sie auffällt, der fühlt sich zu ihr hingezogen, verfällt alsbald ihrem Charme und beginnt sie zu lieben.› So schildert ihre Schwägerin Madame d’Houdetout die Frau, die Louis’ Herz im Sturm erobert. Natürlich ist er nicht der Einzige, der ihrem Charme erliegt; zudem beherrscht sie, wie später Juliette Récamier, meisterhaft die Kunst, Sehnsucht zu wecken, indem sie sich verweigert, und macht jenen, die sie lieben, deutlich, dass sie ihre Gegenwart – die sie zuvor genossen, ja gesucht hat – nur erlaube, wenn sie niemals die von ihr gesetzten Grenzen überschritten!

      

      14/15 Eine akzeptierte Liaison: Louis d’Affry nach einer Zeichnung von Fouquet, gestochen 1792, zusammen mit seiner Geliebten Adélaïde de la Briche (1755–1844).

      Madame de La Briche (1755–1844), geborene Adélaïde Prévost, hinterliess umfangreiche Erinnerungen und eine ebenso grosse Korrespondenz, die Graf Pierre de Zurich in der 1934 in Paris veröffentlichten Biografie verwertet hat.97 Louis d’Affry nimmt darin breiten Raum ein.

      Tatsächlich schlittert er in diese Liebesgeschichte, ohne es zu merken. Er begegnet der jungen Frau häufig in den Salons, beobachtet sie und stellt fest, sie sehe traurig aus, sorgt sich darum und wagt es eines Abends, sie zu fragen, ob sie etwas bedrücke. Sie verneint, er dringt nicht weiter in sie, aber sein aufmerksames Mitgefühl hat sie angerührt. Durch diesen Vorfall gehen ihm die Augen auf: ‹Schon liebte ich sie, aber ich war mein einziger Vertrauter›, schreibt er in sein Tagebuch, das er ihr eines Tages schenkt und das Pierre de Zurich in den Archiven der Familie Barante fand. Von nun an sucht er möglichst oft ihre Gegenwart, ohne ihr freilich die Art seiner Gefühle zu gestehen.

      Drei Jahre sind für Louis d’Affry von der Gegenwart der Frau erfüllt, die fortan seinen heimlichen Herzensgarten besetzt. Doch im Sommer 1785 wird das labile Gleichgewicht, das er in sich errichtet hat, auf eine harte Probe gestellt. Während einer Reise mit seiner jungen Frau in die Schweiz erkrankt Herr de la Briche schwer an Pocken und stirbt in einem Zürcher Hotel. Der schnell unterrichtete Louis d’Affry eilt herbei, um seiner unglücklichen Freundin beizustehen. Er sorgt für sie, tröstet sie und trifft die nötigen Vorkehrungen, damit sie den Ort des Unheils verlassen kann. Adélaïde beschreibt in ihren Memoiren einen Spaziergang bei Sonnenuntergang zu einer Felswand, von der wilde Wasserkaskaden stürzen. Schweigend und gedankenversunken betrachten sie das Naturschauspiel – welch romantische Szene, beruhigend für sie, aufwühlend für ihn! Zunächst bringt er sie ins Landhaus seiner Schwester Madeleine von Diesbach in Courgevaux; um den Anschein zu wahren, begibt er selbst sich zu seiner Familie in Saint-Barthélémy, wo er sie etwas später für etwa zehn Tage willkommen heisst. Sie geniesst die familiäre Atmosphäre, das einfache, stille Leben, ‹die Freundschaft des Grafen Louis [ ], der innerlich froh ist und den seine Verwandten, seine Bauern und jeder anbetet, der sich ihm näherte›. Die wachsende Intensität von Louis’ Gefühlen für sie scheint sie noch nicht wahrzunehmen.

      Wieder in Paris, empfängt sie anfänglich nur ihre engsten Freunde, darunter den bis über beide Ohren verliebten Louis d’Affry, der hofft, nunmehr werde sie seine Liebe freier erwidern können. Doch er wird grausam enttäuscht, denn der Graf de Crillon, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte, bittet sie um ein Wiedersehen und weckt in ihr erneut Gefühle; in ihrer Not bittet sie d’Affry um Rat. Sosehr er sich bemüht, seinen Kummer zu verhehlen – es gelingt ihm nicht, und schliesslich gehen Adélaïde die Augen auf, und sie provoziert eine für ihn völlig überraschende Aussprache, die zwar nichts ins Lot bringt, aber wenigstens befreiende Wirkung hat. Sie erkennt klar, dass er sie liebt, und welche Grenzen sie seiner Leidenschaft auch unentwegt setzen mag (‹Unter einem kühlen und ruhigen Äussern verbirgt sich in mir ein glühendes Herz und ein sehr lebhafter Kopf›, gesteht er ihr), er zieht es vor, sie zu sehen und zu leiden, um wenigstens in ihrer Gegenwart zu sein. Seine mehrfachen Zeichen uneigennütziger Hingabe rühren sie zutiefst. Zu guter Letzt bremst sie den allzu forschen Grafen de Crillon, und ihre Tür steht jederzeit offen für d’Affry, den Vertrauten, den Ratgeber, den engen Freund, für den sie schliesslich selbst mehr als Freundschaft empfindet. Sie lässt es ihn spüren, und er ist glücklich. Die Jahre 1787/88 bilden den Höhepunkt ihrer Liebesfreundschaft, sodass Louis ihr sogar schreiben kann: ‹Endlich liebt Ihr mich so, wie ich es brauche. [...] Seien wir das ungewöhnliche, aber schlagende Beispiel, dass die Liebe in zwei ehrlichen und empfindsamen Herzen die Tugend nicht zerstört.› Dieses Glück währt indes nicht lange, denn schon Anfang 1790 erobert ein jüngerer und skrupelloserer Mann das Herz von Madame de La Briche, die nunmehr ihrerseits die Stacheln der Leidenschaft erlebt. Für Louis ist dies das Ende eines existenziellen Abschnitts seines Gefühlslebens, der seine Persönlichkeit mit Sicherheit unauslöschlich geprägt hat.»98 Nach der Zeit der Liebesblitze folgte nun der Moment, kriegerische Blitze zu schleudern. Die Revolution katapultierte d’Affry, den Administrator der Schweizer Truppen, ins Rampenlicht und setzte seinen Sohn dem Grauen der immer neuen politischen Turbulenzen aus, ausgerechnet ihn, der zu dieser Zeit nur von Ruhe und Zufriedenheit träumt.

      Am Vorabend der Revolution bleibt Louis d’Affry keine Gelegenheit mehr, das süsse Pariser Leben zu geniessen. Am 1. April 1788 übernimmt er das Kommando einer Infanteriebrigade in der Franche-Comté im Rahmen der 10. Militärdivision unter dem Oberbefehl von Generalleutnant Graf de Chambert. Gerade will er seinen Posten in Besançon antreten, da beschliesst die Regierung nach dem vorrevolutionären Tag von Tuiles am 7. Juni 1788, ihn mit zwei zur Brigade unter seinem Kommando zusammengefassten Schweizer Regimentern (Sonnenberg