Verena E. Müller

Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)


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– konservative Julius mitreissen liess, ist nicht bekannt.

      Wie immer er sich dazu stellen mochte, Zeitfragen interessierten Julius. Gemäss Vorlesungsverzeichnis besuchte er im ersten Semester neben theologischen Veranstaltungen «Die Geschichte der letzten 40 Jahre oder neueste Geschichte» bei Friedrich Kortüm. Im folgenden Sommersemester 1831 hörten die beiden Brüder Vögtlin die «Geschichte der gegenwärtigen Zeit».25 Friedrich Kortüm war eine berufene Persönlichkeit, um über Gegenwartsgeschichte zu referieren. In jungen Jahren hatte er an den Freiheitskämpfen der Deutschen und der Spanier gegen Napoleon teilgenommen, fand Zuflucht vor den Verfolgungen der Reaktion in der Berner Erziehungsanstalt Hofwil und kam dann für kurze Zeit nach Basel. Seine Laufbahn beendete er als gefeierter Professor in Heidelberg.26 Mit Kortüm lernte Julius einen Vertreter jener deutschen Gelehrten kennen, denen später auch seine Tochter Marie begegnete. Es waren Männer, die sich neben ihrer wissenschaftlichen Berufung zumindest zeitweise politisch engagierten und denen die jungen Schweizer Hochschulen, Zürich, Bern und das Eidgenössische Polytechnikum, viel verdankten.

      Wenige Monate nach Studienbeginn starb Julius’ Vater. Die Witwe Verena Vögtlin-Erismann kehrte mit der einzigen Tochter Rosa nach Brugg zurück, wo sie ihren Gatten um über drei Jahrzehnte überlebte. Ob der Tod des Vaters die jungen Studenten in eine finanzielle Klemme brachte? Am 8. Oktober 1831 reichte Julius ein Stipendiengesuch ein: «Die Candidaten Frey und Voegtlin bitten um eine Unterstützung zur Fortsetzung ihrer Studien in Berlin oder doch um Prolongation ihrer bisherigen Beneficien und Stipendien.»27 Die Antwort liegt nicht vor.

      Julius’ Studienfreund Johannes Georg Ritter schildert die Reise der drei Theologen nach Berlin. Zunächst rüsteten zwei Professoren die jungen Männer mit Empfehlungsschreiben für die Berliner Kollegen Schleiermacher und Neander aus. Dann ging es mit der französischen Post nach Strassburg: «Von da nach Karlsruhe, Heidelberg, Mannheim, Mainz, Coblenz, Wiesbaden, Frankfurt, Leipzig, Wittenberg […]. Ich […] sage nur, dass wir in Frankfurt Schnyder von Wartensee und den jungen Fichte und in Leipzig Alexander Schweizer kennen lernten; dass wir die Festung Ehrenbreitenstein genau besichtigten und einem Manöver beiwohnen durften; auf der Wartburg und in Weimar vergangener Zeiten gedachten.»28 Ritter kommentiert die damalige Art des Reisens: «Reisen überhaupt, aber besonders solche, wie man sie damals machte, nicht im Eisenbahnwagen, sondern bald zu Fuss, bald mit einem Hauderer [= Lohnkutscher], der überall, auch auf dem Lande, die Pferde füttern und warten muss, haben etwas Befreiendes, Bildendes. Meine Reise nach Berlin hat mir mehr genützt, als ein fünftes Semester in Basel hätte tun können.»29

      Die Schweizerkolonie an der Universität Berlin zählte 75 Studierende. Die Neuankömmlinge fanden freundliche Aufnahme: Am Donnerstag traf sich die Gruppe jeweils zu einer gemeinsamen Kneipe. Nach Schleiermachers Tod verliess Julius mit zwei Kollegen Berlin, Ritter blieb länger in Deutschland. Doch auch Julius wagte sich nochmals in die grosse Welt hinaus. Seinen zweiten Urlaub von der Universität Basel verbrachte er im Wintersemester 1833/34 in Bonn.

      Julius’ Beziehung zu Ritter hatte später für Marie unmittelbare, glückliche Folgen. Wie zuvor ihre Schwester Anna freundete sie sich mit Ritters Tochter Marie und deren Bruder Johannes an. Schwanden, wo Johann Georg Ritter während Jahrzehnten als Pfarrer wirkte, wurde für Marie zum wichtigen Bezugspunkt. Marie Ritter begleitete Marie Vögtlin als treue Freundin durchs Leben. Die an sie gerichteten Briefe sind eine der wichtigsten Quellen dieser Studie. Auf die Schwandener war in jeder Hinsicht stets Verlass, wie sich noch und noch zeigen wird.

      Julius begann seine berufliche Tätigkeit als Vikar in Kulm, dann zog er zu Pfarrer Benker nach Schöftland. Am 22. Oktober 1840 heiratete er die Tochter seines Vorgesetzten. 1842 liessen sich Henriette und Julius in Bözen nieder. Für Henriette war es eine Art Heimkehr. Wie wir uns erinnern, hatte ihr Vater zwischen 1808 und 1813 fünf Jahre hier gewirkt. Fast das ganze Eheleben der Vögtlins spielte sich in diesem Dorf ab, hier kamen die Kinder zur Welt, hier erlebten sie Schmerzliches, wie den Tod des kleinen Sohnes Julius, verschiedene Fehlgeburten, die Kränklichkeit Henriettes, und hier in Bözen verbrachte Marie ihre «Kindheit auf dem Lande».

       «Ich wage nun […] dennoch vor Sie hinzutreten, indem ich Sie erinnere an die grossen Schwierigkeiten, welche einem Mädchen in den Weg treten, das sich eine Bildung zu verschaffen wünscht, ähnlich derjenigen, zu deren Erlangung den jungen Männern alle Thüren offen stehen. Wäre mir früher Gelegenheit geboten worden, ein Gymnasium zu besuchen, so hätte ich mich glücklich genug geschätzt, dies zu thun und in diesem Falle würde ich auch keine Schwierigkeit gehabt haben, allen Forderungen einer normalen Maturitätsprüfung zu entsprechen.» 1

      Mit deutlichen Worten beklagte sich Marie in ihrem Gesuch um Zulassung zur Maturitätsprüfung an der Kantonsschule Aarau über die fehlenden Bildungschancen für Mädchen. Sie wusste, dass ein Pfarrerssohn mit ihrer Begabung das Gymnasium besucht hätte. Ihre spontane intellektuelle Neugier liess sie früh Fragen stellen, auf die eine traditionelle Mädchenbildung keine Antwort hatte. Vor allem vermisste sie gründliche naturwissenschaftliche Kenntnisse. Nach dem Entscheid zum Studium verbrachte Marie Jahre damit, Lücken in ihrem Allgemeinwissen zu stopfen.

      Bei ihren Zeitgenossen hätten Maries Bemerkungen Kopfschütteln ausgelöst, denn in deren Augen schien ihre Bildung richtig «gediegen». Die Eltern Vögtlin hatten sich redlich bemüht, der Tochter einen soliden schulischen Rucksack auf den Lebensweg mitzugeben, und dafür weder Aufwand noch Kosten gescheut. In den modernen Fremdsprachen Französisch und Englisch beispielsweise war sie jungen Männern überlegen. Allerdings sollte sie ihre Schulung nicht auf wissenschaftliches Denken oder einen Beruf, sondern auf das Leben einer Ehefrau ihrer Gesellschaftsschicht vorbereiten. Dazu gehörten handwerkliche Fertigkeiten wie Nähen, Stricken, Flicken, Sticken, Kochen, aber auch Fremdsprachenkenntnisse und eine gewisse musikalische Bildung. In den Jahrhunderten vor Radio und Schallplatte hörte man nur Musik, die man selbst machte. Einzig in Städten gab es ein bescheidenes Konzertleben. Marie spielte Klavier und in der Kirche Harmonium;2 auch in späteren Jahren sang sie häufig und offensichtlich gerne. Doch all das war der jungen Frau zu wenig.

      Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts fällt auf, dass Marie stets privat unterrichtet wurde. An der Universität nutzte sie erstmals das Angebot einer öffentlichen Institution. Über ihre Grundausbildung berichtet sie: «Bis zum zwölften Jahr wurde ich aber nicht zu strenger Arbeit angehalten, sondern trieb mit aller Musse die Elementarfächer entsprechend den Stadtschulen für Kinder meines Alters. Mein Vater lehrte mich Deutsch und Rechnen, meine Mutter Französisch und Clavier, und bei meinem Lehrer, der die übrigen Schulfächer übernommen hatte, trieb ich mit vorzüglicher Freude Schweizergeographie, Singen und Zeichnen.»3 Interessant ist der Hinweis auf die Stadtschulen. Offenbar hatte die Familie Vögtlin Vorbehalte gegen die Bözener Dorfschule und setzte die Latte für ihre Tochter etwas höher. Ob es in einer Aargauer Dorfschule zuging wie auf den Bildern Albert Ankers?

      Siebel glaubte, die schwächliche Gesundheit der Mutter sowie Konflikte zwischen den beiden Schwestern Marie und Anna hätten die Eltern veranlasst, die Zwölfjährige zur weiteren Ausbildung zu Jakob Immanuel Hunziker und seiner Frau ins Pfarrhaus in Thalheim zu schicken.4 In Maries Thalheimer Zeit fällt Annas Welschlandaufenthalt in Montmirail 1859.

      In einer grosszügigen Liegenschaft aus dem 18. Jahrhundert betrieben Hunzikers eine kleine Pension.5 Marie beschreibt diese erste Internatszeit: «Mit zwölf Jahren kam ich, da in unserem kleinen Dorf keine Gelegenheit zu weiterer Ausbildung geboten war, in eine kleine Privatmädchenanstalt im Aargau, wo ich während der folgenden 3½ Jahre unterrichtet wurde. Hier fing ich an, Englisch zu lernen, und da wir nur abwechselnd Französisch und Englisch sprechen durften, so lernte ich rasch, mich etwas in diesen Sprachen zu unterhalten. Ich genoss guten Unterricht in allen Schulfächern; Naturwissenschaft trat in den Hintergrund, dagegen trieb ich mit grosser Freude allgemeine Weltgeschichte, Geographie, Rechnen, Zeichnen und Musik. Unsere Anstalt war in einem völlig abgeschlossenen Dorf, wir hatten keine Gelegenheit, mit anderen Mädchen zusammen zu kommen, um so grössere Freude hatten wir am Lesen, und ich werde nie den tiefen Eindruck vergessen