und auf der Straße verkaufte. Das ging nicht lange gut. Kaum hatte er davon erfahren, zwang James mich auch schon, damit aufzuhören und auf dieses Wenige zu verzichten, das uns weitergeholfen hätte. Das uns geholfen hätte, zu überleben. Wieder gab ich nach. Ich wollte immer noch glauben, dass er mich auf seine Weise liebte, dass es zu unserem Besten war, wenn er mich so behandelte. Damals war mir die Bedeutung der Arbeit und insbesondere der Frauenarbeit noch nicht klar. Arbeiten heißt nicht nur Geld verdienen. Es bedeutet viel mehr. Arbeiten hilft dir, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, es bringt dich mit anderen Menschen in Kontakt. Es öffnet dir die Augen und lässt dich von einer anderen Zukunft träumen. Es gibt dir Unabhängigkeit, Entscheidungsfreiheit. Würde. Es spielt keine Rolle, ob du auf der Straße Eier verkaufst, als Sekretärin arbeitest oder Schreibmaschinenkurse hältst. Wichtig ist nur, dass du es tust, dass du etwas auf die Beine stellst. Als ich jung war, glaubte ich wie so viele Frauen, dass es nur auf die Familie ankomme und dass mein Partner der einzige Mensch sei, auf den ich mich verlassen und auf den ich zählen könne. Doch so war es nicht, ich hatte mich getäuscht. Er wurde immer eifersüchtiger und hörte nicht auf, mich zu schlagen. Ich bereute meinen Starrsinn. Ich war die Gefangene meiner eigenen Entscheidungen.
Im Viertel gingen inzwischen Gerüchte um. Die Nachbarn erwähnten seine vorige Frau, die seit einigen Jahren tot war. Sie tratschten und sagten, er gehe zu anderen Frauen. Ich verschloss Augen und Ohren und redete mir ein, das sei alles üble Nachrede und ein Produkt ihrer Eifersucht. Doch es ging mir schlecht. Ich fühlte mich nicht geliebt. Ich ertrug es nicht, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte und so völlig auf mich alleine gestellt war.
HUNGER
In Mponela lernte ich zum ersten Mal in meinem Leben den Hunger kennen.
Die Probleme begannen im Vorfeld der Regenzeit 2002, zwischen Oktober und November, und dauerten bis Ende Februar, als die Maisernte anfing. Es war ein furchtbares Jahr, es regnete wenig, und die Ernte war nicht ausreichend. Meine Familie gehörte zum Glück nicht zu denen, die es am härtesten traf, weil mein Mann eine Arbeit und ein festes Gehalt hatte und wir nicht völlig von den Erträgen der Landwirtschaft abhingen – anders als die Bauern und viele andere arme Menschen.
Ich erinnere mich noch gut an ihre Verzweiflung.
Alles war geschlossen, kam zum Erliegen. Die Kinder gingen nicht zur Schule, weil sie bei der Nahrungsbeschaffung helfen mussten. Die Preise waren astronomisch hoch, und auch die Viehzüchter hatten Schwierigkeiten. Wenn man Ziegen und Hühner hatte, musste man mit Bedacht vorgehen : Man durfte sie nicht alle auf einmal essen, konnte das Fleisch jedoch der Hitze wegen auch nicht konservieren. Die einzige Möglichkeit war, sie zu verkaufen und Nsima davon zu kaufen, die haltbar war und den Magen für einige Tage füllte. Doch die Tiere waren ein grundlegendes Kapital und eine Investition, die große Opfer verlangt hatte, und so war es schwer, sich – zumal zu einem Schleuderpreis – von ihnen zu trennen. Hinzu kam, dass der Maispreis explodierte und unter den armen Leuten Gerüchte kursierten, wonach einige große Konzerne, die über die entsprechenden Mittel verfügten, genau darauf spekuliert hatten : Sie hätten große Vorräte für wenig Geld aufgekauft und würden sie nun zu exorbitanten Preisen weiterverkaufen.
Die Straßen waren voller erschöpfter und verzweifelter Menschen, die alles Mögliche aßen, nur um sich den Magen zu füllen. Einige starben, weil sie giftige Wurzeln gegessen hatten, andere, weil sie nicht einmal mehr die Kraft hatten, zu reagieren. Zuhause aßen wir nur einmal am Tag, mittags. Ich kochte keinen Maisbrei mehr, sondern eine Art Porridge aus Getreide, Wasser und Zucker. Das war alles, was wir uns erlauben konnten. Dabei konnten wir uns, verglichen mit der Mehrheit der Bevölkerung, noch glücklich schätzen. Die Nachbarn und die Freunde wurden argwöhnisch. Jeder misstraute jedem. Sie waren neidisch. Sie hatten Angst, bestohlen zu werden. In den Straßen der Stadt herrschte eine leidende, resignierte Stimmung. Die Tage verstrichen immer langsamer, immer leerer.
HIV
In der Schule hatte ich zum ersten Mal von Aids gehört.
Eine meiner Freundinnen hatte die gleiche Zahnbürste wie ich : dieselbe Marke und dasselbe Modell, und einmal hatte ich aus Versehen ihre genommen. »Vorsicht !«, schrie sie. »Das ist meine !«
»Woher weißt du das ?«
»Ich habe den Griff markiert.«
Ich fragte sie nach dem Grund, ich wollte wissen, weshalb sie so sehr auf ihre Zahnbürste achtete. Wir waren Kinder, Freundinnen, und hatten schon oft unsere Seife oder unsere Kleider getauscht. Das war zwar etwas anderes als eine Zahnbürste, aber ihre Reaktion kam mir trotzdem übertrieben vor. Sie erklärte mir, dass wir vorsichtig sein müssten, weil es eine neue Krankheit gebe, Aids, die sich über das Blut übertrage, und dass ich sie, wenn ich damit infiziert wäre, hätte anstecken können, wenn ich mir beim Zähneputzen das Zahnfleisch verletzt hätte.
Meine zweite, sehr viel schmerzlichere Begegnung mit Aids hatte ich – auch wenn es im Grunde niemand hatte zugeben wollen –, als meine Eltern daran starben. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur eine vage Vorstellung, worum es sich handelte. Ich wusste, dass es eine unbekannte Krankheit und anders als alle anderen Krankheiten war, aber ich kannte weder ihren Charakter noch ihre Wirkung. Ich versuchte mich zu informieren, aber ich wurde zum Schweigen gebracht. »Frag nicht und sprich mit niemandem darüber«, schärften mir meine Großeltern und der Rest der Familie ein. Wer an dieser Krankheit starb, musste das im Stillen tun und durfte keine Spuren hinterlassen.
In den darauffolgenden Jahren war Aids jedoch in der gesamten Region südlich der Sahara zu einem wirklichen und echten Notfall geworden. Im Radio brachten sie ständig Berichte und gaben Anweisungen, wie man mit dem Virus und mit den Menschen umgehen sollte, die sich damit infiziert hatten. Ich traf mich mit den Nachbarn zu stundenlangen Diskussionen an der Türschwelle. Am besten wäre es doch wohl, so sagten wir, jeden Kranken mit einem Zeichen auf der Stirn zu markieren. Das sei das Nächstliegende. Da er eine Gefahr für den Rest der Bevölkerung sei, könne man ihn ebenso gut kenntlich machen und von den anderen fernhalten. Die Straßen der Stadt hatten sich geleert und waren stiller geworden. Beinahe täglich wurde jemand beerdigt. Der Präsident hatte die Straßen mit großen Bekanntmachungen plakatiert, auf denen er eine einzige Lösung propagierte, das »Rezept der drei A«: »Abstinenz, Abstinenz, Abstinenz.«
Ich begann darüber nachzudenken, ob es nicht angebracht sei, den Test zu machen. Ich wollte sichergehen, dass ich nicht krank war, und falls doch, dann wollte ich mir die nötigen Medikamente verschaffen. Mir war bewusst, dass sie mich nicht würden retten können, aber sie hätten zumindest die Beschwerden gelindert und mein Leben um einige Jahre verlängert, das Ende hinausgezögert. Ich wusste, dass ich im Fall der Fälle stark, fest und entschlossen würde sein müssen. Dass der gesellschaftliche Tod dem physischen vorangehen würde. Dass ich wahrscheinlich im Stich gelassen, verraten und diskriminiert werden würde. Dass das Wenige, was die Krankheit unversehrt ließ, von Angst, Unwissenheit und Hoffnungslosigkeit getroffen werden würde.
MELINDA
Wenn ich durch unser Viertel ging, traf ich oft meine Schwäger, die viel jünger waren als James. Eines Tages begegnete ich dem Kleinsten von ihnen, der das vierte Jahr der weiterführenden Schule besuchte, und einem Mädchen, das ich zunächst für seine Mitschülerin hielt. Im Näherkommen hörte ich jedoch, wie mein Schwager zu dem kleinen Mädchen sagte : »Sag Pacem guten Tag, sie ist deine Tante.«
Ich verstand nicht, weshalb er das sagte, und achtete nicht weiter darauf. Doch von diesem Tag an lächelte das Mädchen mich an, wann immer wir uns begegneten, und gab mir die Hand.
Ich fragte einen anderen Schwager, wer sie sei.
»Das ist eine von James’ Töchtern«, sagte er ganz unbefangen.
Ich wurde zornig, ich war schockiert. Ich verstand nicht, warum er mir nie etwas gesagt hatte. Wir lebten seit einigen Jahren zusammen, wir waren eine Familie – wie hatte James etwas so Wichtiges vor mir geheim halten können ? Ich wusste, dass er schon einmal verheiratet