Hans-Dieter Mutschler

Alles Materie - oder was?


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      Es geht hier also um eine Kritik der Auffassung, wonach die Welt nicht nur aus Atomen, Elementarteilchen oder meinetwegen Superstrings besteht, sondern wonach diese materiellen Partikel alles Übrige bestimmen und auf diese Art den traditionellen Geist und damit auch gleich noch den lieben Gott überflüssig machen. Diese sehr verbreitete Auffassung wird sich als haltlos, als ideologisch verbrämt herausstellen, und wir werden deshalb nach einer Alternative fragen müssen.

       1. Der kluge und der primitive Materialismus

      Es gibt einen klugen und einen primitiven Materialismus. Zunächst wollen wir uns auf den durchaus klugen Materialismus beziehen, um von vornherein den Verdacht auszuräumen, wir hielten den Materialismus ipso facto für primitiv und schlecht. Gläubige Menschen unterschätzen oft die Wucht des Negativen in der Welt, das doch eine mächtige Instanz gegen ihre Überzeugungen darstellt. Es ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, angesichts von Auschwitz und Birkenau, angesichts der Gräuel von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot oder angesichts von Hiroshima und Nagasaki immer noch an einen gütigen Gott zu glauben. Nicht dass ich es für unmöglich hielte, aber das Elend dieser Welt ist offenkundig eine furchtbare Zumutung für den Glauben, und wer sich zu einem solchen Glauben nicht entschließen kann, der hat womöglich seine guten Gründe und mag im Übrigen ein durchaus guter Mensch sein. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass der Glaube etwas Selbstverständliches sein sollte.

      In der zweiten Hälfte dieses Kapitels soll also auch über den Primitivmaterialismus gehandelt werden, der auf der Illusion beruht, wir würden nur gewinnen, wenn wir die Religion im Mülleimer der Geschichte verschwinden lassen. Das ist nicht nur böswillig, sondern töricht. Der Verlust der Religion ist zugleich mit einem Verlust an existenzieller und moralischer Substanz verbunden, wobei man bis heute nicht sehen kann, was diesen Verlust kompensieren könnte. Diese durchaus wertvolle Substanz des Christlichen können wir in einen gesellschaftlichen und in einen individuellen Aspekt aufteilen. In beiden Bereichen hinterlässt der Verlust des Glaubens eine empfindliche Lücke, und diejenigen, die nicht einfach nur von Hass gegen die Religion erfüllt sind, haben diesen Verlust erkannt. Es sind dies die klugen Atheisten, und sie sind oft traurig über das Verlorengegangene. Karl Rahner unterschied schon vor 50 Jahren die triumphalistischen von den traurigen Atheisten. Letztere sind unsere eigentlichen Gesprächspartner.

      Im Jahr 2004 fand in der Katholischen Akademie in München ein Gespräch zwischen dem Philosophen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger, damals noch Kardinal, statt. Das Gespräch wurde als sensationell, von manchen auch als Anstoß erregend empfunden, weil Habermas immer als der Repräsentant einer links-aufgeklärten – selbstverständlich glaubenslosen – Vernunft galt, während man Ratzinger eher zum konservativen Flügel der Kirche rechnete.

      Was wollten die beiden voneinander? Eine leicht zynische Lesart würde so lauten: Da treffen sich zwei ältere Herren, deren jeweils multinationale Unternehmen Gefahr laufen, bankrott zu machen, so dass eine heilige oder auch unheilige Allianz zustande kam, so wie sich zwei umstürzende Bäume gegenseitig stabilisieren, damit es nicht so schnell zu Ende geht, sozusagen eine Art von Rentenkonkubinat. Der atheistisch eingestellte Philosoph Hans Albert schäumte vor Wut, weil er annahm, der Aufklärer Jürgen Habermas sei nun zu Kreuze gekrochen, vielleicht weil man im Alter – den Tod vor Augen – eine Rückversicherung braucht in dem Sinn, wie sich große Aufklärer und Atheisten von Voltaire bis Heinrich Heine noch auf dem Totenbett zum christlichen Glauben bekehrt haben. Man weiß ja nie, was da noch kommt.

      Aber diese Deutung wäre ganz falsch. Jürgen Habermas hat sich nicht zum Glauben bekehrt. Sein Motiv ist ein ganz anderes, und man sollte dieses Motiv nicht nur als eine strategische Ausflucht aus dem Ungenügen der eigenen Position sehen, so wie Ratzinger seinen Kontrahenten nicht einfach nur als einen reuigen Sünder sah, der in den Schoß der Kirche zurückkehrt. Eine positive Lesart, die dem Sachverhalt wohl eher angemessen wäre, ist die, dass hier zwei bedeutende Vertreter ihrer jeweiligen Weltanschauung von der Sorge umgetrieben wurden, das moderne Gemeinwesen könne von innen her ausgehöhlt werden und irgendwann einmal moralisch kollabieren.

      Die Problematik, die hierin liegt, hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde so ausgedrückt, dass unser freiheitlichdemokratischer Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Dieser Satz machte später als ‚Böckenförde-Diktum‘ Karriere. Er drückt ein Paradox demokratischer Gesellschaften aus, die die Weltanschauung ihrer Bürger nicht mehr festlegen und auf die Art sanktionieren wie noch zu Zeiten der Einheit von Thron und Altar. Kantisch gesprochen, fordert der Staat nur noch Legalität, aber keine Moralität mehr, d. h., er verlangt nur noch Gesetzeskonformität. Aus welchen Gründen der Bürger den Gesetzen gehorcht, ob aus Angst vor Strafe, aus Berechnung oder aus Gutwilligkeit, betrifft den Gesetzgeber nicht weiter, denn der demokratische Staat schnüffelt nicht mehr hinter den Motiven seiner Bürger her. Aber dann kann es geschehen, dass die Sittlichkeit des Gemeinwesens nach und nach austrocknet.

      Der Staat ist nämlich darauf angewiesen, sich moralisch zu reproduzieren, so wie er sich auch physisch reproduzieren muss. In beiderlei Hinsicht haben wir heute ein Problem. In allen westeuropäischen Ländern werden zu wenige Kinder geboren. Die eingewanderten Muslime andererseits haben viele Kinder. Es gibt Untersuchungen, wonach bisher nur religiös geprägte Gesellschaften ihr eigenes physisches Überleben sichern konnten. Selbst die vielgelobten Kinderkrippen in der ehemaligen DDR hatten nicht die Wirkung, dass dieser atheistische Staat sein eigenes Überleben sichern konnte. Die hatten auch zu wenig Kinder.

      Für die moralische Reproduktion gilt etwas Ähnliches, denn nur eine lebendige Moral lässt sich unseren Kindern beibringen, denn wir sollten Kinder nicht nur physisch, sondern auch moralisch zur Welt bringen. Nun garantierte die traditionelle Religion eine gewisse sittliche Grundsubstanz des Gemeinwesens, aber nichts ist an deren Stelle getreten, vielmehr ist das moderne Individuum gewöhnlich auf sein eigenes Wohlergehen fixiert, vielleicht noch auf das seiner unmittelbaren Nachkommen, aber nur noch selten auf das Wohlergehen des Staates. Der Staat ist jetzt nur noch der Garant meines persönlichen Glücks. Er sperrt die Verbrecher weg, sichert meine Rente und regelt das Verkehrschaos, aber wir haben kein affektives Verhältnis mehr zu ihm.

      In seiner Antrittsrede von 1961 sagte John F. Kennedy den berühmt gewordenen Satz: „Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.“ Ludwig Erhard – ständig Zigarre rauchend – war zur selben Zeit, nämlich ab 1963, Bundeskanzler geworden und hatte kurz zuvor ein Buch mit dem bezeichnenden Titel geschrieben „Wohlstand für alle“. Während sein Vorgänger, Konrad Adenauer, der im Dritten Reich das eigene Leben riskiert hatte, stets darauf achtete, dass Deutschland nach den Zeiten der Barbarei wieder ein Land der sittlichen Substanz würde, heizte Erhard einseitig den Konsum an, so als hinge unser Glück allein davon ab. Es scheint, dass wir ihm seither gefolgt sind und dass der private Konsum und die Steigerung des individuellen Lebensstandards unser vorrangiges Ziel sind. Dies gilt selbstverständlich nur statistisch (rühmliche Ausnahmen bestätigen immer die Regel).

      Diese Dominanz des Hedonismus und des Habenwollens hat bei Josef Ratzinger für ein pessimistisches Geschichtsbild gesorgt. Er sieht die heutige Gesellschaft in Relativismus und Hedonismus versinken und empfiehlt als Gegenmittel die christliche Religion. Aus diesem Grunde führte er als Papst das Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ fort, das sein Vorgänger ins Leben gerufen hatte. Es ist aber nicht sicher, ob wir den herrschenden Hedonismus der Gesellschaft, den niemand bestreiten kann, moralisierend deuten sollten, denn die Menschen sind heute nicht schlechter als früher, aber vielleicht fehlt ihnen die motivierende Kraft zur Selbstlosigkeit, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu formal sind. Die Menschen sind eben Herdentiere und vielleicht nicht einmal zu Unrecht, denn wir sind auf Anerkennung und Kooperation angewiesen. Wenn sich in einer Gesellschaft wie der unsrigen das individuelle Habenwollen als Grundhaltung durchgesetzt hat, dann wird der Einzelne die Tendenz haben, sich dem anzupassen, und man sollte deshalb hier nicht zu rasch mit moralischen Kategorien und Verurteilungen arbeiten. Sicher aber scheint, dass dieses Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ keine guten Chancen hat. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Völker Europas erneut der Kirche beugen werden.

      Habermas