noch zunehmend erschließen werden. Kann man überhaupt anders leben und glauben, ohne den Klang von heller Morgenmusik?
Johann Wolfgang von Goethe hat gesagt: „Wer sich des Guten nicht erinnert, der kann auch nicht hoffen.“ Einer meiner Lehrer, der Franziskaner Johannes Bendiek, war als Student mit seinem Professor, dem Philosophen Peter Wust (1884–1940, sein bekanntestes Werk ist „Ungewissheit und Wagnis“) befreundet. Seine letzten Jahre verbrachte Johannes als Seelsorger in einem Schwesternhaus in Münster. Bei einem Besuch kurz vor seinem Tod fragte ich ihn, wie es ihm gehe. Er antwortete mit Worten seines Lehrers, der ihm, selber von schwerster Krankheit gezeichnet – er hatte ein Kiefer- und Zungenkarzinom – gesagt hatte: „Mir geht es sehr schlecht. Genau genommen aber bin ich glücklich. Also will ich es immer ganz genau nehmen.“
So möchte ich es halten: Beim Erinnern in Geistes Gegenwart verändert und entwickelt sich mein Glaube. Überall sind Spuren des Lebens. Wenn man ihnen nicht nachgeht, verwischen sie. Wenn man ihnen aber nachgeht, dann entsteht nicht Vergangenes neu, sondern es entsteht Zukunft. Schreibendes Erinnern vor allem wirkt – so habe ich es gelesen und so möchte ich es gern glauben – dem biologischen und spirituellen Altern entgegen. Es nimmt versunkene Melodien wieder auf, es komponiert auch neue Weisen und in neuen Tonarten. Düfte, Klänge und Gerüche von damals öffnen mir Türen ins Heute und ins Morgen. Und wenn die Überfahrt meines Lebens unruhig bleiben sollte, so hoffe ich doch auf einen ruhigen Abend und eine sichere Ankunft.
Ich finde einen Tagebucheintrag, den ich während eines Besuches in Esztergom (Ungarn) gemacht habe: „Die Ferien und der Feiertag in der Heimat liegen hinter mir. Es war schön in der Gemeinde von Sankt Vit. Es hat mir gutgetan. Ich habe meine Heimat neu sehen und lieben gelernt. Die Tage im Westfälischen waren wie ein schönes Kapitel Leben. Ich bin dankbar. Jetzt aber suche ich wieder das Weite.“
Ist es gerecht, die Heimat mit dem Gefühl von Beengung in Verbindung zu bringen? Wurde es mir zuweilen eng? Ich liebte meine Familie, die taufrischen Morgenstunden im Dorf mit dem Geschmack des nahen Waldes, wenn wir, in den ersten Jahren noch in Holzschuhen, zur Schule und zuvor zur Schulmesse gingen. Das Dorf meiner Kindheit, das ist die Erinnerung an die alte Zwergschule mit ihren drei Klassenräumen, die Kirche am Wald, vor der wir vor Beginn der Schulmesse herumstanden, Jungen und Mädchen sauber getrennt schon vor der Tür, dann auch im Kirchenschiff. Das Dorf, das ist der warme Ackerboden im frühen September, wenn wir uns durch „Kartoffelsuchen“ ein Taschengeld verdienten. Das Dorf, das waren und das sind die sonnenwarmen Brombeeren an den Buschhecken. Das Dorf, das ist das Moos für die Krippe, das ich mit dem Sohn des Küsters, auch er hieß Vitus, aus dem Wald holte. Das Dorf, das ist die Erinnerung an das nicht mehr existierende elterliche Fachwerkhaus mit einem großen Garten, mit den Rosen und Astern, die meine Mutter darin zog, und den großen Blumensträußen, die sie am Tag vor einem Hochfest zur Kirche trug.
Wieso zog es mich denn fort in die Welt und in die Weltkirche? Wahrscheinlich hat mich der frühe Tod meiner Mutter ein wenig heimatlos gemacht. Ich wollte auch einfach mehr lernen, als in der Dorfschule möglich war. Mehr von der Kirche erfahren, als im Umkreis unserer barocken Pfarrkirche sichtbar war. Wahrscheinlich hat mich das Beispiel einer Tante inspiriert, die in Brasilien und später in den USA lebte. In Houston und auch in West Paterson (New Jersey) habe ich sie besucht. Dann waren da auch zwei Ordensleute. Einer war Missionar in Japan, dessen gelegentliche Besuche ich später in Tokio erwidern konnte. Der andere kam 1944 im Bombenhagel auf Dresden ums Leben, war aber in den Erzählungen in der Gemeinde immer anwesend. Und dann gab es noch den „Weißen Vater“, der ebenfalls „Vitus“ hieß, ein Missionar in Ostafrika, der uns während seines Heimaturlaubs gleich mehrere Schulstunden hindurch mit seinen Erzählungen in Spannung hielt. Ja, ich habe mich im Dorf und in der Kirche, so wie sie damals waren, beheimatet gefühlt. Zugleich aber war ich auf dem Weg.
Und dann war da ein Erlebnis von Enge und Bigotterie, das mich nachhaltig irritierte und zugleich in eine andere Richtung wies. Meine Mutter hatte mir an einem Freitag wie immer das Pausenbrot mitgegeben. Sie hielt sich weiß Gott gewissenhaft an alle damaligen kirchlichen Vorschriften, hatte aber an diesem Tag vergessen, dass kein Fleisch gegessen werden durfte. Auch ich bemerkte nichts und begann, das leckere Stück in der Pause zu verspeisen, ausgerechnet vor den Augen der Lehrerin, Fräulein K. Die hatte mich schon einmal darauf angesprochen, ob ich nicht einen geistlichen Beruf ergreifen wolle. Sie hegte entsprechende Erwartungen. Umso größer ihr Entsetzen: „Ausgerechnet du. Ich falle aus allen Wolken.“ Ich war zornig. Nicht nur, weil sie mir das Brot fortnahm, das ich nun erst recht gern gegessen hätte. Ich wusste vor allem, dass dieser Tadel ungerecht war – vor allem meiner Mutter gegenüber –, und ich ahnte, dass es Gott wenig kümmern müsste, welche Maßstäbe eine ältliche Lehrerin aus Sankt Vit anlegte.
Seither leitet das biblische Motiv, dass der Mensch wichtiger ist als der Sabbat (Mk 2,27 par.), mein Leben, meine Wege und mein Suchen. Und ich erfuhr deutlicher als zuvor, wo Heimat ist. Nicht nur da, wo du die Bäume kennst, sondern wo auch die Bäume dich kennen.
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