Hildegard Aepli

Alles beginnt mit der Sehnsucht


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Wort »sehnsuchtgeweiht« packte mich. Es gefällt mir noch immer. Ich spüre es geradezu auf meiner Zunge zergehen: mich meiner Sehnsucht hingeben, meiner Sehnsucht geweiht sein, mit ihr umherschweifen, von meiner Sehnsucht aus das Nächste, die Dinge, die Menschen, die Natur betrachten. Ich stelle fest, wie sich die Beziehung zu allem dadurch veränderte und noch verändert – wie verwandelt, intensiver, weiter, beglückender ich mein Leben aus diesem Blickwinkel wahrnehme.

      Kürzlich las ich das Buch »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«. Es ist ein Pilgermärchen, eine fesselnde Geschichte von zwei älteren Menschen. Weil der eine etwas tut, das ihn selber und den anderen völlig überrascht, geschieht ganz Neues. In dieser Geschichte stieß ich auf den Satz, dass es darum geht, »das Offensichtliche zu ignorieren und an etwas Größeres und unendlich Schöneres als das real Sichtbare zu glauben«.

      Es ist die Sehnsucht im Menschen. Sie nimmt mich an der Hand, weitet mein Herz, meine Möglichkeiten und meinen Blick. Sie lässt mich an etwas denken, das richtig Freude bereitet, was ich mir gönnen, wünschen, was ich lernen, ausprobieren, entdecken, kennenlernen will. Sie lässt mich an etwas Großes und Schönes, was das Leben für mich bereithält, glauben.

      Zu wagen, von der eigenen Sehnsucht aus ins Leben zu sehen, ist nicht nur etwas für Paare oder für Familien. Es ist das Privileg von Singles und natürlich etwas jedem Menschen Eigenes. Die Sehnsucht hält lebendig, sie erfrischt, sie lockt, sie zieht ins Unbekannte, Geheimnisvolle, Verborgene. Sie nennt nicht das Ziel der Reise. Sie verlangt nach dem Mut, einfach mitzukommen und eigene Erfahrungen zu wagen.

      Schwester Ruth Nussbaumer hat die Sehnsucht als geflügeltes Wesen dargestellt. Die Gestalt ist nach oben und nach unten ausgestreckt. Sie reicht über den Rand hinaus. Sie greift ins Offene. Sie wurzelt in der Tiefe. Die Gestalt ist in Bewegung. image

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       EXPERIMENT

      Heute betrachte ich die Welt von meiner Sehnsucht aus. Wie wäre es, wenn ich mir Zeit nähme – nicht für einen gezielten Spaziergang, sondern für das Umherschweifen, Betrachten, Verweilen, Weiterschlendern, Versunken-Sein, Lärm-Fliehen, Bei-mir-Wohnen? Oder ich sitze auf meinem Stuhl und lasse die Gedanken umherschweifen. Wohin ziehen sie mich?

3. Tag image

      Träume, die in deinen Tiefen wallen,

      aus dem Dunkel lass sie alle los.

       Wie Fontänen sind sie, und sie fallen

       lichter und in Liederintervallen

      ihren Schalen wieder in den Schoß.

      Und ich weiß jetzt: wie die Kinder werde.

       Alle Angst ist nur ein Anbeginn;

      aber ohne Ende ist die Erde,

      und das Bangen ist nur die Gebärde,

       und die Sehnsucht ist ihr Sinn –

      Dieses Gedicht von Rainer M. Rilke kann ich auswendig. Es fiel mir glücklicherweise in den Jahren zu, in denen ich intensiv ringend nach meinem Selbst, nach den Sinnfäden meines Lebens suchte. Das Überraschende ist für mich der Gedanke des Dichters, dass meine Träume im Dunkeln wohnen und ich sie zuerst daraus entlassen muss.

      Wie klug, denke ich heute! Solange die Träume im Dunkeln bleiben, sind sie verborgen und nicht wirklich fassbar. Sie sind gefangen und starr. Zeige ich ihnen den Weg ans Licht, in mein Bewusstsein, in die Gedanken, ins eigene Wort, beginnen sie zu leben. Es beginnt eine Geschichte! Und was für eine!

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      Der Dichter weiß, dass diese Geschichte mit Licht, Leichtigkeit und mit Musik zu tun hat. Es ist eine Hoffnungsgeschichte, die aus dem Dunkel ins Licht führt. Ich durfte erfahren, dass diese Geschichte zur ureigenen Geschichte werden kann. Sie handelt vom Wagnis eines Originals in Beziehung zum Ewigen. Die Sehnsucht ist der Faden, der beide verbindet.

      Die Skulptur von Robert Indermaur bringt diesen Gedanken auf andere Weise zum Ausdruck. Mit Blick zum Himmel, aufrecht und sprungbereit steht diese Frau da. Sie ist allein. Sie scheint sich am Ewigen zu nähren und dadurch den Sprung in das Leben zu wagen.

      Darum geht es: mich zu wagen, mir nichts von vornherein zu verbieten, meine Träume aufsteigen zu lassen, das Dunkel in meiner Seele zu lüften. Es stimmt natürlich: Sehnsucht zulassen heißt, sich aussetzen und ein Risiko eingehen. Es ist ein Schritt ins Unbekannte, einem Geheimnis entgegen. Die ureigenste Geschichte beginnt immer mit dem Benennen eines Traums unter einem großen Himmel. Wage dich! image

       EXPERIMENT

      Wie wäre es, wenn ich mich heute an den Ort meiner Sehnsucht begäbe, kein Licht anzündete und in der Dunkelheit nachspürte, welcher Traum aufsteigt? Eine andere Möglichkeit ist, das Gedicht von Rilke oder ein anderes Gedicht über die Sehnsucht auswendig zu lernen.

4. Tag image

      Wie verhält es sich mit unseren Wünschen? Was geschieht, wenn ich wage, einen Traum zu benennen?

      Aus der Kinderzeit ist mir geblieben, dass es unendlich lange dauern kann, bis Wünsche in Erfüllung gehen. Noch schlimmer ist, nicht ganz sicher zu wissen, ob oder wie sie in Erfüllung gehen. Wünschen heißt warten und warten heißt offen lassen, wie sich der Wunsch erfüllt.

      Was Kinder mit ihren Wünschen erleben, scheint im Erwachsenenalter nicht anders geworden zu sein. Wer sich auf seine Sehnsucht einlässt, wer einen großen Lebenswunsch äußert, wird augenblicklich aufs Warten und auf die Offenheit der Art der Erfüllung verwiesen. Wer aber will heute warten? Für wen hat Warten einen Wert? Wer mag das Offene, das Nichtwissen darüber, wie sich eine Geschichte entwickeln wird?

      Im Jahr 2011 bin ich mit drei Freunden zu Fuß von der Schweiz nach Jerusalem gepilgert. Wir mussten in Amman, fünf Tagesetappen vor dem großen Ziel, auf eine Gruppe von Leuten warten. Wir hatten abgemacht, dass sie uns auf der letzten Wegstrecke begleiten. Das bedeutete für uns drei Wochen warten. Ich erlebte eine schlimme Zeit. Ich hatte keine Lust, so viel Zeit in dieser endlosen Wüstenstadt zu verbringen. Ich hatte kein Bedürfnis, nach sechs Monaten des Pilgerns plötzlich stillzustehen. Ich wollte nur eines: endlich ankommen. Dann merkte ich, dass diese Pause genau mit der Adventszeit zusammenfiel. Das stimmte mich versöhnlich. Adventszeit ist doch gerade die Zeit des Wartens, sagte ich mir. Ich beschloss, jeden Tag einen englischsprachigen Gottesdienst zu besuchen. Hier hörte ich bekannte und weniger bekannte Texte aus dem Buch des Propheten Jesaja. Ich entdeckte, dass ich mich in der Landschaft befand, aus der diese Texte stammen. Die Bilder sprachen zu mir. Ich verstand sie. Sie erfüllen mich noch heute. Ich begann nach und nach diese Zeit zu schätzen. Die Zeit des Wartens wurde zu einer ganz wichtigen Zeit des Pilgerns. Sie hat das gute An- und Heimkommen vorbereitet.

      Einen Traum haben und warten können, das sind Geschwister, die zusammengehören. Im Warten geschieht vieles, was zunächst scheinbar nichts mit dem Traum zu tun hat. Es lohnt sich, dranzubleiben, auszuharren und dem, was geschieht, ein großzügiges Vorschussvertrauen zu schenken. image