Ottmar Fuchs

Sakramente - immer gratis, nie umsonst


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ein annähernd korrelatives, analoges und paralleles ist, dann geht es den Menschen gut, dann erleben sie etwas oder vielleicht sogar viel von dem Glück eines Gottes, der es gut mit ihnen meint. Dann wird als Erfahrung gefeiert, was im Ritual gezeigt und symbolisch versprochen wird. Neben dem analogen ist aber auch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Erfahrung und sakramentalem Symbolgeschehen in den Blick zu nehmen. Wenn die „direkte“ Erfahrung nicht mehr mithält, kann der Vollzug des Rituals dennoch wirken, ohne dass es Ritualismus ist. So kann auch in Beziehungen das Alltagsritual wie ein „Geländer“ über Krisenzeiten hinweghelfen, wenn es Blockaden gibt, ein Problem unmittelbar anzusprechen, wenn man also Zeit braucht, um miteinander zurechtzukommen. Dann trägt das Ritual über diese Kluft hinweg. Entsprechend kann sich auch eine Unsicherheit im Glauben durchaus mit der Aufrechterhaltung umso sichererer Rituale bzw. des Gottesdienstbesuchs verbinden.

      Es ist, wie wenn man im Ritual einen Brief schreiben würde, von dem man aber nicht so recht glauben kann, dass er ankommt. Gleichwohl beinhaltet die Treue zum Ritual in sich die leise Hoffnung, dass diese formale rituelle Verbindung irgendwie nicht ins Leere geht. Vielleicht auch die Hoffnung, dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg dann doch die Chance gewahrt bleibt, dass auch die eigene Gottesbeziehung wieder Leben gewinnt. Wenn man es nicht moralisierend, sondern im Sinne eines tatsächlichen An-Gebotes auffasst, könnte man diese Überlegungen auch als Plädoyer für das Sonntagsgebot verstehen.

      Der inhaltliche Sicherheitsverlust wird über die formale Verlässlichkeit aufgefangen mit der Hoffnung, dass darin nach kurzen oder auch langen Durststrecken wieder die inhaltliche Verlässlichkeit aufscheint. Man kann diesen Zusammenhang auch auf der Zeitschiene und damit endzeitlich verstehen. Was das Ritual vergegenwärtigt, ist immer zugleich ein Versprechen, das jetzt in vieler Hinsicht in den Erfahrungen der Menschen noch nicht zuhause ist, sondern auf Hoffnung hin und oft genug wider alle Hoffnung (vgl. Röm 8,24), eine Verheißung, die als etwas erfahren werden darf, was gleichwohl bereits in einer bestimmten Weise gegenwärtige Wirklichkeit ist. Das Ritual wird zum Platzhalter dafür, dass Gott am Ende dieses Äons all das erfahrungsmäßig einlösen wird, und weit über die jetzigen Vorstellungen hinaus, was im Symbolvollzug des Sakraments als „antizipiertes Faktum“, als im Glauben vorweggenommene Zukunftswirklichkeit geschenkt ist.27 Das Sakrament ist der Schwur Gottes, dass seine Liebe den Menschen gegenüber auch kontrafaktisch gilt, geglaubt und gehofft werden darf, ohne sie unmittelbar zu erfahren.

      Ein Beispiel für so einen Prozess bietet der Psalm 22. Er ruft nach einer langen Klage zum Lob Gottes auf, obwohl sich die Situation des Leidens noch nicht verändert hat. Verändert hat sich aber das Gottesverhältnis, insofern Gott nun als der erlebt wird, der nicht nur dem Menschen, dem es gut geht, sondern auch dem, dem es schlecht geht, nahe ist. Hier ereignet sich die Transformation von der Wohlergehensreligion zu einem Vertrauen, das weder den Menschen noch Gott unter solche Wenn-dann-Bedingungen stellt. Israel stößt zu dieser Gottesbeziehung im persönlichen Gebet des einzelnen Menschen (hinsichtlich seiner Leidenserfahrungen) und kollektiv in den Erfahrungen des Volkes im Exil vor. Die Rettung ist zwar noch nicht sichtbar, aber in Gott für die Zukunft beschlossen.

      Auch die Eucharistie hat diese endzeitlich-gegenfaktische Struktur: Sie vergegenwärtigt nicht nur die Erinnerung an die MählerJesu und an das letzte Abendmahl, sondern sie weist auch in die Zukunft und vergegenwärtigt von der Zukunft her das himmlische Hochzeitsmahl. Denn die christliche Erinnerung ist immer zugleich eine Verheißung und macht nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die erhoffte Zukunft gegenwärtig. Auch diese Zukunft ist im Ritual als Gnade vor-gegeben. So spiegelt sich die Transzendenz Gottes in der zeitlichen Transzendenz, im Überstieg zur Vergangenheit wie auch im Überstieg zur Zukunft. Für diese eschatologische Dimension der Eucharistie gilt näherhin, dass sie beides beinhaltet, nämlich die Erinnerung und geglaubte Rettung der Opfer (in der Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu) wie aber auch die dadurch erreichte Versöhnung der Sünder und Sünderinnen, also der Täter (siehe unten im Kapitel Eucharistie: Opfergedächtnis und Versöhnung vom Kreuz her).

      Analog dazu kann man auch die christlichen Kasualrituale ansehen, insofern eine größere Anzahl derer, die sie beanspruchen, eher distanziert das Ritual suchen als die damit verbundene Glaubens- und Gemeinschaftserfahrung. Natürlich bleibt die Chance offen, dass die Betreffenden sich für die dahinterliegenden Wirklichkeiten öffnen. Aus diakonischer Perspektive sind die Kasualrituale jedenfalls in Bezug auf die sog. Fernstehenden ein Dienst daran, dass diese in unsicheren Übergangszeiten ein ihnen vorgegebenes Ritual erhalten, in dem sie diese Passage ihres Leben anfanghaft für die Transzendenz, also auf das hin, was sie nicht selbst sind und haben und was sie an „Größe“ übersteigt, öffnen und derart aushalten und bewältigen können. Von daher ist die Sakramentenpastoral nicht als ein Ausverkauf der Sakramente zu verdächtigen, sondern kann als ein bezüglich der Institution der Kirche absichtsarmes Unternehmen „ritueller Diakonie“ im Dienst an den Menschen angesehen werden, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Gegebenheit auch einmal das bewirkt, was sie symbolisiert. Nur: Kalkulieren kann man damit nicht. Ob ein biographisches Passagenritual auch zur Passage in die Erfahrungen und Gemeinschaft des Glaubens wird, ist nicht zu erzwingen, sondern nur zu ermöglichen und zu erhoffen.

      Was eben zum eher negativen Verhältnis von Ritual und Erfahrung formuliert wurde, gewinnt insbesondere im jüdischen Bereich im Anschluss an die Katastrophe von Auschwitz eine erschütternde Radikalisierung, nämlich dass das Ritual (z. B. des Paschamahls) auch gegen die Erfahrung Gottes, nämlich angesichts seiner im Stich lassenden Abwesenheit, aufrechterhalten wird. Elie Wiesel hat diesen Zusammenhang immer und immer wieder erzählt und in seiner Dichtung aufgegriffen. Er nimmt damit die kühne jüdische Tradition auf, nämlich zu Gott nein zu sagen, ihn anzuklagen, und zwar um der Menschen willen. Im Prozess von Schamgorod28 bringt Elie Wiesel diesen Zusammenhang in das Drama, dass Gott für das unendliche Leid schuldig gesprochen und verurteilt wird, und unmittelbar im Anschluss daran ruft der Rabbi zum Gebet auf, zum Schema Israel, also dazu, sich in das alte Ritual dieses Gebetes zur Anerkennung Gottes im Lobpreis einzubringen, und so auch nicht aufzuhören, das Paschamahl zu feiern. Denn verstanden werden kann von diesem sich verbergenden Gott nichts mehr. Übrig bleibt ein Trotzdem: sich trotzdem in die vorgegebenen Formen der Gottesbeziehungen hineinzubegeben. Auch dies ist eine Erfahrung, eine Erfahrung allerdings, die auch das Un-Erfahrene an Gottes Anwesenheit nicht ausgrenzt.

      Das Ritual ist also nicht nur verdichteter Ausdruck menschlicher Erfahrung, sondern kann Letzterer auch gegenüberstehen und so eine Wirklichkeit repräsentieren, die zur Erfahrung unzureichend oder gegenläufig ist. Die Liturgie hat in solchen Zusammenhängen eine Stellvertretungsaufgabe, indem sie in der Sicherung des Rituals jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, die auch gegen den Augenschein gilt und Wirklichkeit ist. „Es betet“ weiter, obwohl der Mensch aus seiner Situation heraus nicht mehr beten kann.29

      Derart macht das Ritual jene Stellvertretung erfahrbar, die christologisch, durch die Stellvertretung des Geistes Christi „für uns“ (vgl. Röm 8,26), ermöglicht ist.30 Das Ritual realisiert das Gotteslob, nämlich Gott größer als alles andere sein zu lassen, gegen den Augenschein auch dann noch, wenn in der „direkten“ Kommunikation mit Gott nicht mehr viel erlebt werden kann.31 Im Ritual ist die Gnade noch vor der Erfahrung präsent, auch unabhängig zu ihr, um in dieser Vorgegebenheit gerade als solche erfahren werden zu können.

      Bei Wiesel zeigt sich die überkommene Symbolhandlung als die Möglichkeit, die Paradoxie des Glaubens zu leben und auszuhalten, die Paradoxie, die darin besteht, Gott angesichts des Leidens der Menschen eigentlich die Beziehung aufkündigen zu wollen und zu müssen, dies aber letztlich dann doch nicht zu können und zu wollen. Hier zeigt sich eine Spiritualität, die die Beziehung zu Gott in der Schwebe zwischen radikaler Infragestellung und Anbetung lässt und Letztere in der Treue zum Ritual und damit in der Solidarität mit dem eigenen Volk vollzieht. Die Unsicherheit in der Gottesfrage verbindet sich hier eigenartig mit einem regelmäßigen Ritual in Solidarität mit Israel und letztlich dann doch mit seinem Glauben. Unvergleichbar damit und doch in vorsichtiger Analogie dazu könnte im christlichen Bereich in der Treue zur sonntäglichen Eucharistie, auch wenn die Gotteserfahrung nicht mithält, gleichwohl die Solidarität zu den vor allem weltweit verfolgten Mitchristen und Mitchristinnen zum Ausdruck kommen.