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Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten


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kollektiver Identität – zur Erfindung der Nation96 – des Bezugs auf gegebene symbolische Bestände bedarf, und dass die Erfinder der Nation „auf religiöse Symbolsprache angewiesen“ sind, um „eine emotional bindende, starke Vergemeinschaftung erzeugen zu können“97. Wenn diese Annahme stimmt, dann kann man mit Friedrich Wilhelm Graf zu Recht fragen: „Welche überkommenen theologischen Gehalte wurden auf den ‚neuen Gott‘ bezogen? Inwieweit lassen sich unterschiedliche Nationskonzepte auch nach ihren impliziten Theologien unterscheiden? Wie ist es zu erklären, dass in vielen europäischen Gesellschaften gerade die Repräsentanten der kirchlichen Institutionen, also die Pfarrer, und akademische Theologen Nationalismen propagierten oder Nationskonzepte entwarfen?“98

      An diesem Punkt wird der besondere Charme der longue durée eines Vergleichs deutlich, die es beispielsweise auch erlaubt, Nations- und Konfessionsbildung zusammen in den Blick zu nehmen: Strukturell stehen ja ganz ähnliche Vorgänge zur Diskussion: Hier die Erfindung der Nation und ihre Durchsetzung – dort die Erfindung von Konfessionen und ihre Verkündigung bis in das letzte Dorf. Es wäre zu prüfen, ob und, wenn ja, unter welchen Umständen sich religiöse Funktionsträger ebenso für die Nation in Dienst nehmen ließen wie für ihre jeweilige Konfession.

      Vom Summepiskopat des evangelischen Landesherren, der zugleich als oberster Bischof seiner Landeskirche fungierte, zum Oberhaupt eines Nationalstaats von Gottes Gnaden war der Weg in der Tat nicht weit. Wo eine eigenständige Kirchenbehörde wie ein Bischöfliches Ordinariat fehlte, wo der Pfarrer immer schon als Landesbeamter fungierte, war der Übergang zum Agenten eines kulturprotestantisch begründeten Nationalstaats fließend. Für das deutsche Kaiserreich ist evident, dass vor allem evangelische Pfarrer religiöse Symbolbestände benutzten, um den Nationalstaat als gottgewollt auszugeben. Eine Letzthingabe an und eine Totalidentifikation mit dem Nationalstaat brauchten in der Tat religiöse Qualitäten, die zumindest in der Gründungsphase durch Pfarrer vermittelt werden konnten.