Michael Neumayer

Warum wir an falsche Sätze glauben


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muss den Risikoappetit kommunizieren und einen offenen Dialog zu risikorelevanten Fragen ermöglichen und fördern. Da Risikokulturentwicklung offizielle Chefsache ist, müssen ManagerInnen künftig auch nachweislich ethikfit sein. Auch wenn die Führungskräfte eine besondere Verantwortung tragen bei der Entwicklung und Kommunikation der angemessenen Risiko-Kultur, so können die übrigen Angestellten ihre persönliche Verantwortung für die Risiko-Kultur nicht delegieren. Ganz im Gegenteil! Die Umsetzung der Risikovorgaben – des „Risikoappetits“ – bei den unmittelbaren täglichen Aufgaben und Entscheidungen ist die eigentliche Basis der angemessenen Risiko-Kultur. Sie wächst gewissermaßen von unten nach oben – gemäß den von oben nach unten klar kommunizierten Vorgaben. Und mehr noch: Jeder Mitarbeiter muss auch dazu bereit sein, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, und sich bemühen, die Risikorelevanz des unmittelbaren Geschäftsbereiches auch im Gesamtzusammenhang zu verstehen. Eben dazu ist die Dialogbereitschaft – der offene Austausch – mit MitarbeiterInnen, KollegInnen und Führungskräften wesentlich. Risikobewusstsein muss auf allen Ebenen angemessen kultiviert werden. Im Ba-Fin-Fachartikel wird an einer Stelle festgestellt: „Sowohl Geschäftsleitung als auch Mitarbeiter des Unternehmens sollen ihre Tätigkeit am Wertesystem, am festgelegten Risikoappetit und den bestehenden Risikolimits ausrichten. Dafür sind sie jeweils selbst verantwortlich (Accountability). Sie sollen sich über die Konsequenzen bewusst sein, die drohen, wenn sie die von ihnen erwarteten Verhaltensweisen nicht erfüllen, wenn sie also zum Beispiel zu hohe oder nicht gewünschte Risiken eingehen oder nicht tolerierte Geschäftsaktivitäten und -praktiken entwickeln. Konsequenzen können zum Beispiel disziplinarische Maßnahmen wie Kürzungen der Boni, Abmahnungen oder im Extremfall auch Kündigungen sein.“

      Doch nicht alleine die oben erwähnten unangenehmen möglichen Konsequenzen „motivieren“ das persönliche Verantwortungsbewusstsein, sondern die Bewusstwerdung der Tatsache, dass die Auswirkungen eines massiven Risiko-Störfalles wirklich ausnahmslos alle MitarbeiterInnen einer Bank betreffen können. Wenn es ums Risiko geht, sitzen tatsächlich alle im gemeinsamen Boot! Jede unangemessene Entscheidung – auch wenn sie zunächst nicht unmittelbar mit quantifizierbarem Risiko in engerem Sinn in Verbindung gebracht werden kann – kann potentiell einen großen Reputationsverlust bewirken. Der bewusste Umgang mit Reputationsrisiken gehört daher zweifelsohne zur angemessenen Risiko-Kultur. Die BaFin fordert, „dass Entscheidungsprozesse zu Ergebnissen führen, die auch unter Risikogesichtspunkten ausgewogen sind“. Jede unternehmerische Entscheidung muss daher unter Reputationsrisiko-Gesichtspunkten angemessen sein. Und jede angemessene unternehmerische Entscheidung ist eine ethische Entscheidung – und umgekehrt. Da die allgemeine Art und Weise der Entscheidungsfindung die Unternehmenskultur so wesentlich prägt, ist die angemessene Risiko-Kultur das Herzstück einer ethischen Unternehmenskultur. Mit ihren neuen Anforderungen hat die BaFin deutlich auf jene Missstände und Phänomene ökonomischer Hybris und Unkultur reagiert, die nachfolgend in 4. detaillierter beschrieben werden. Die nachhaltige Kultivierung einer ethischen Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn möglichst viele Akteure der Finanzindustrie ihre persönliche Mentalität kritisch überprüfen und verändern. Sonst besteht die reale Gefahr, dass die schönen Worte der BaFin wirkungslos bleiben.

      Wie schon in der Einleitung kurz erwähnt, werden die Spuren menschlicher Hybris nicht nur im technologischen Bereich, sondern auch in der Wirtschaft und der Unternehmenskultur sichtbar. Und oft wird diese unmenschliche Hybris in falschen Sätzen artikuliert. In Sätzen, die eine Wirtschaft rechtfertigen wollen, von der zum Beispiel Papst Franziskus in Evangelii Gaudium9 sogar wörtlich schreibt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Er wendet sich mit leidenschaftlichen Worten gegen eine Wirtschaft „der Ausschließung“ und der „sozialen Ungleichheit“. Hier klingen gewiss auch konkrete Erfahrungen des Papstes mit der himmelschreienden Armut und sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika an, jedoch ist die Ungerechtigkeit des Wirtschaftssystems ein wirklich globales Phänomen – Franziskus nennt es „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Er bezweifelt den „unbewiesenen“ Ansatz der freien Marktwirtschaft und ihrer „sakralisierten Mechanismen“: die Behauptung, dass eine effiziente Marktwirtschaft schließlich doch irgendwie allen Menschen zugute kommen würde und „von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag10. Das sind keine Zitate aus dem Hamburger Grundsatzprogramm der SPD, wo sie ebenso gut stehen könnten, sondern aus einer päpstlichen Enzyklika. Und diese Sätze sind wahr: Es ist mehr als fraglich, ob eine sich selbst organisierende freie Ökonomie, die sich nicht grundsätzlich an der Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, für möglichst viele Menschen mehr menschenwürdige Arbeit, mehr Wohlstand und mehr Gerechtigkeit erbringen kann.

      Anfang 2016 war das private Netto-Vermögen11 der 63 wohlhabendsten Menschen der Erde ebenso groß wie das aller anderen – also ca. 7400 000 000 – Menschen. Als Oxfam diese Zahlen veröffentlichte, wiesen einige Ökonomen darauf hin, dass diese doch kein generelles Anwachsen der globalen Ungleichheit belegen würden. Vielmehr würde die Schere zwischen Armen und Reichen unter bestimmten Aspekten sogar geringer, beispielsweise bei der medizinischen Versorgung oder im Bildungswesen. Auch würden langfristige Statistiken belegen, dass es etwa in Europa im 19. Jahrhundert prozentual gesehen mehr Arme gegeben habe als heute oder dass der Mittelstand in China wachsen würde. Wie auch immer: Die Oxfam-Zahlen sprechen deutlich für sich und belegen, dass die freien Marktkräfte jedenfalls nicht verhindern können, dass es grundsätzlich zu solch enormen Ungleichgewichten kommen kann. Und die vielen hunderte Millionen Armen und Ausgebeuteten erwarten von uns heute konkrete Hilfe und Maßnahmen – mit einer langfristigen statistischen Hoffnung lässt sich ihr aktuelles Elend wohl nicht beheben.

      Die sogenannte Finanzkrise und diverse Unternehmensskandale haben sehr deutlich gemacht, wie unökonomisch unethisches Handeln sein kann. Kurzfristiger Geschäftserfolg wird nämlich langfristig durch den Reputationsverlust mehr als zunichtegemacht, wenn Tricksereien, Rechtsbrüche oder mangelndes Risikobewusstsein öffentlich werden. Der Vertrauensverlust schädigt die Geschäftsentwicklung oft nachhaltig und bringt mitunter ganze Branchen – zu Recht oder Unrecht – in Verruf (und insbesondere auch zur Freude der internationalen Konkurrenz). Hinzu kommen in Einzelfällen die manchmal enorm hohen Strafzahlungen oder außergerichtlich vereinbarten Summen zur Einstellung von Strafverfahren. Werden die Finanzunternehmen dann auch noch mit Steuergeldern „gerettet“, ist die öffentliche Empörung erfahrungsgemäß besonders groß. Der berechtigte Vorwurf lautet sehr verkürzt: Gewinne werden privatisiert, Verluste verstaatlicht.

      Falsch ist dieser Satz nicht. Explizites ethisches Denken spielte insbesondere in der Finanzbranche bisher wohl nur eine untergeordnete Rolle. Inzwischen ist aber durch die vielen negativen Erfahrungen auch im EU-Raum die Einsicht gewachsen, dass weder Finanzmärkte noch Finanzinstitute ohne ethisches Bewusstsein sein dürfen. Denn eine zum Teil leider wirklich branchentypische unangemessene Entscheidungs-Unkultur machte es sich sehr einfach und unterscheidet nur sehr oberflächlich zwischen falschem und richtigem Handeln. Dieses falsche Denken gipfelt in dem falschen Satz: Richtig ist alles, was nicht gesetzlich verboten ist. Dadurch entsteht aber bei Entscheidungsträgern allzu leicht der Eindruck, dass es bezüglich der Handlungsoptionen jenseits der Grenzen des eindeutig Falschen gar keine ethisch relevanten Fragen mehr zu stellen oder zu beantworten gäbe. Als Investmentbanker fragte ich also bei den Kollegen der Compliance- und Rechtsabteilung nach : Ist diese Transaktion auch legal? Im Zweifelsfall bezahlte ich noch ein externes Rechtsgutachten, um die Durchführbarkeit des Geschäfts rechtfertigen zu können. „Mylord, is this legal?“, fragt der Chef der Handelsföderation Nute Gunray seinen Auftraggeber Lord Sidious im Film Star Wars I. „I’ll make it legal!“, erhält er als Antwort. Nicht alle Investmentbanker sind potentielle Star-Wars-Bösewichte, aber wenn die rechtlichen Bedenken einmal zerstreut sind, werden darüber hinaus meist keine weiteren Fragen mehr gestellt. Just close the deal! Warum sollte ich auch ethische Bedenken haben? Wenn es nicht illegal ist, ist es ethisch irrelevant. Im Übrigen machen’s die Konkurrenten