Hermann Kügler

Scheitern


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Ich stehe vor den Trümmern meines Lebens.

      Eine Frau, die auf die vierzig zugeht, verliebt sich in einen verheirateten Mann. Er verspricht ihr, sich von seiner Ehefrau und seiner Familie zu trennen, um mit ihr zusammen eine neue Lebensperspektive aufzubauen. Nach vielem Hin und Her und dramatischen Höhen und Tiefen in der Beziehung gibt sie ihm zuliebe ihren Beruf auf, kündigt ihre Wohnung und zieht in die Stadt, in der er wohnt. Dort wollen sie heiraten und ein gemeinsames Leben beginnen.

      »Aber da hat sich gezeigt, dass mein Freund sich doch nicht wirklich für mich entschieden hatte. Schon bald nach dem Umzug war von Heirat und Kindern keine Rede mehr. Im Gegenteil: Er ging immer wieder zu seiner Ehefrau und seinen Kindern zurück. Das hat mich sehr gekränkt und verletzt. Ich stehe jetzt vor den Trümmern meines Lebens. Ihm zuliebe hatte ich ja meinen Beruf aufgegeben, der mich schon sehr erfüllt hat, und einen neuen habe ich noch nicht gefunden. Jetzt erst merke ich, dass in meinem Freundeskreis für diese Entscheidung von Anfang an kein richtiges Verständnis war.

      Mutterseelenallein bin ich jetzt in dieser fremden Stadt. Ich glaubte, dass ich mit meinem Freund Kinder haben und eine Familie gründen könnte. Dieser Traum ist nun ausgeträumt, denn inzwischen bin ich zu alt. Das wird nie gehen. Alles ist zerbrochen.«

      Frank: Meine Freundin hat mich verlassen.

      »Nach dem Abi, während des Zivildienstes, lernte ich die Mandy kennen. Ich war neunzehn Jahre alt, sie achtzehn. Wir haben uns beide total ineinander verliebt. Ich kann nicht mehr so genau sagen, ob das mehr von ihr oder mehr von mir ausging. Sie machte FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) in derselben Einrichtung, in der auch ich arbeitete. Wir machten viel zusammen, und es war eine total schöne Zeit. Wir arbeiteten nicht nur zusammen, sondern feierten auch und so. Alles passte einfach unheimlich gut zusammen. Sie verstand sich auch gleich mit meinen Kumpels. Ich war noch nie so glücklich wie in dieser Zeit. Nach dem Zivildienst begann ich dann mit dem Studium und sie auch. Da lernte sie den Mark kennen. Das traf mich wie der Blitz. Ich habe keine Ahnung, was sie an dem findet und was der hat, was ich nicht habe. Vor drei Monaten trennte sie sich von mir und ist nun mit ihm zusammen. Ich habe alles versucht, dass sie wieder zu mir zurückkommt. Aber das will sie nicht. Ich muss immerzu an sie denken. Was habe ich bloß falsch gemacht?«

      Die Berichte von Andrea, Jule, Christian, Doris und Frank zeigen, wie verschieden man sein Scheitern sehen kann. Die individuelle Einschätzung spielt die entscheidende Rolle. Ich will nun die folgenden Aspekte unterscheiden und präzisieren.

       »Objektives« und »subjektives« Scheitern sind zweierlei

      Immer wieder scheitern Firmen mit ihren Geschäftsideen. Unternehmer müssen Konkurs anmelden. Einstmals erfolgreiche Manager werden entlassen. Vor ein paar Jahren hat das »Manager-Magazin« eine Liste der »Top Ten« der bis dahin gescheiterten Unternehmer und Manager veröffentlicht. Darin kamen berühmte Namen vor wie Heinz Dürr, Max Grundig, Josef Neckermann. Vor allem in den neuen Bundesländern, im Osten Deutschlands, sind seit der Wende im Jahre 1989 immer wieder Firmen in die Insolvenz geraten. Auch hohe staatliche Subventionen, die unternehmerische Initiative der Gründer und das fachliche Können und Engagement der Mitarbeiter reichten oft nicht aus, um Unternehmen erfolgreich am Markt zu etablieren. Sie konnten wirtschaftlich nicht bestehen, sind gescheitert und mussten »abgewickelt« werden.

      Ähnliches wie im Wirtschaftsleben erleben auch Politiker oder Führungskräfte in Non-Profit-Organisationen. Jemand gilt als Hoffnungsträger seiner Partei oder eines Wohlfahrtsverbandes und wird mit überwältigender Mehrheit in ein wichtiges politisches Amt gewählt. Dann ändern sich vielleicht die Schwerpunkte seiner Tätigkeit, so dass sie nicht mehr mit seinen persönlichen Grundwerten oder Einschätzungen übereinstimmen. Oder es gelingt ihm einfach nicht, sich eine Hausmacht aufzubauen. Nur kurze Zeit später braucht man ihn nicht mehr, er wird abgewählt, »gestürzt«.

      Für die Betroffenen kann ein solches »objektives« Scheitern unterschiedliche Konsequenzen haben. Der eine hat ein dickes Fell und nimmt die Situation nicht persönlich. Ein Zweiter findet vielleicht bald einen neuen Arbeitsplatz, so dass er den Verlust des bisherigen leicht verschmerzt. Ein anderer sitzt auf der Straße und wird für zu alt gehalten für einen Neubeginn. Für Christian kamen noch weitere Schicksalsschläge hinzu, so dass er sich wirklich als gescheitert erlebt.

       Scheitern ist nicht dasselbe wie moralisches oder ethisches Versagen

      Scheitern und schuldig werden sind zweierlei. Der Mafia-Boss, der mit Drogenhandel ein Vermögen gemacht hat, lädt gewiss Schuld auf sich. Unentdeckt wird er sich aber nach irdischen Maßstäben genauso wenig als gescheitert erleben wie der Steuerbetrüger, dem das Finanzamt nicht auf die Schliche kommt. In christlicher Sprache sagen wir dazu »Sünde«. Andererseits wird, wer seinen Arbeitsplatz verliert und deswegen die Raten für sein Haus nicht mehr bezahlen kann, sich als gescheitert bezeichnen, auch wenn er den Arbeitsplatz unverschuldet verloren hat. Und sicher hat er nicht gesündigt.

      Scheitern und Schuldigwerden kann auch zusammenkommen. Ein junger Mann konsumiert wider besseres Wissen harte Drogen, so dass nach einiger Zeit eine drogeninduzierte Psychose bei ihm ausbricht. Trotz mehrerer Klinikaufenthalte heilt die Psychose nicht aus. Die Krankheit ruiniert ihn und seine Familie. Sein Leben ist mehr oder weniger gescheitert. Schmerzlich wird ihm bewusst, dass er durch eigene Schuld dazu beigetragen hat.

      Eine ethisch falsche Entscheidung, ein moralisches Versagen kann – muss aber nicht – dazu führen, dass jemand scheitert. Wer eine ethische Fehlentscheidung trifft, also tut, was er nicht tun dürfte, ist für diese Tat oder Unterlassung verantwortlich und lädt womöglich Schuld auf sich. Wenn er mit freiem Willen und in klarer Erkenntnis in einer wichtigen Angelegenheit etwas getan hat, was ethisch verwerflich und nach Recht und Gesetz verboten ist, kann er unter Umständen auch juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist beim Scheitern nicht so. Scheitern bedeutet nicht von vornherein, dass Sie etwas falsch gemacht haben und deswegen ethisch dafür verantwortlich und schuldig sind.

      Ich gebe gerne zu, dass die Trennlinie im Leben nicht so scharf zu ziehen ist wie im Nachdenken. Von außen ist es immer schwierig zu beurteilen, wie viel eigene Schwachheit und wie viel Bosheit in einer Handlung enthalten sind und wie viel die äußeren Umstände und die Bosheit anderer dazu beitragen.

       Scheitern ist nicht dasselbe wie Krise

      In eine Krise gerät jemand, wenn die bisher gelernten Bewältigungsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen, um mit einer neuen schwierigen Situation zurechtzukommen und eine neue Herausforderung zu bewältigen.

      Krisen kommen meist überraschend. Sie führen dazu, dass die betroffenen Menschen sowohl in ihrem Selbstwertgefühl wie in ihren sozialen Kontakten labil werden. Die bisher vertrauten Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster geraten außer Kraft. Es charakterisiert eine Krise, dass sie Chance und Risiko in sich birgt. Bei einer Krise besteht noch die Möglichkeit, dass sich die krisenhafte Situation zum Besseren wenden wird. Nicht alle Menschen scheitern in einer Krise, wie es bei Andrea und Christian der Fall zu sein scheint.

      Krisen kommen vor bei Wachstums- und Reifungsschritten und bei Prozessen der Lebensveränderung und sind also in gewisser Weise normal. Krisenzeiten sind etwa die Einschulung, der Tod eines Haustiers, die Pubertät, das erste Verliebtsein, Loslösung von den Eltern, Auszug von zu Hause, Eheschließung, Partnerschaft und Elternschaft, Ausscheiden aus dem Berufsleben, Altwerden, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Wir Menschen erleben Veränderungen in diesen Zeiten oft als weniger bedrohlich, wenn wir unsere Erfahrungen mit anderen Menschen teilen und darüber sprechen können.

      Schwieriger zu bewältigen sind schicksalhafte Krisen, die durch besonders kritische oder traumatische Lebensereignisse ausgelöst werden, z.B. durch einen Unfall, den Tod eines nahestehenden Menschen, eine plötzliche Krankheit, den Verlust des Arbeitsplatzes oder dadurch, dass jemand von anderen »an die Wand gespielt« oder gemobbt wird. Jule ist durch die Diagnose »Gehirntumor« in eine krisenhafte Situation geraten, aber offenbar nicht gescheitert, anders als Christian