Der Rest, so hoffte ich, käme dann schon (fast) von selber. Nicht ohne mich, aber leichter, natürlicher, lebendiger, mir gemäßer, als Folge der Gnade, die mehr freudige Bewegungsbereitschaft und Kreativität in mir vorfinden würde, ja diese überhaupt erst freisetzt.
Ich begann also, Gedichte zur Regel zu schreiben, ganz einfache, aus dem Herzen kommende. Es war eine Neuentdeckung für mich. Die wichtigste Entdeckung war, dass mir die Regel nichts ist, was ich »befolgen« könnte. Sie ist mir mehr Raum als eindimensionale Richtschnur; sie ist wie ein Experimentierlabor – das ist ja gar nicht so weit weg von Benedikts Bild der Schule2 oder der Werkstatt3 –, ein Angebot, um meine Erfahrungen auf dem Weg der Freundschaft mit Gott und der Beziehung zur Gemeinschaft, zu mir selbst und zu allen Menschen zu orten und in der Kraft des Evangeliums weiterzugehen. Es fällt mir noch das Bild einer Landkarte ein. Die Landkarte ist nicht selber der Weg. Man »beobachtet« sie nicht wie ein Gesetzbuch, man orientiert sich an ihr. Sie hilft, den eigenen aktuellen Standpunkt und den weiteren Weg zu finden. Die Kraft, den Weg zu gehen, kommt nicht von der Regel, sondern vom Wort Gottes.
Das Schreiben weckte in mir tatsächlich erstaunliche Energie und eröffnete mir neue Erfahrungsräume. Zwar hielt ich mit meinen Gedichten nicht die ganze Regel durch. Irgendwann fand ich es aber auch gar nicht mehr nötig und blieb auf die ersten Kapitel4 beschränkt, die die Grundlage benediktinischer Spiritualität bilden. Umso mehr entwickelte das Gedichte-Schreiben an sich bald seine eigene Dynamik, und so schrieb ich weitere Texte, nicht mehr ausdrücklich von der Regel inspiriert, aus ganz verschiedenen Situationen meines Weges in einer monastischen Gemeinschaft heraus. Diese späteren Gedichte oder Gebete habe ich ebenfalls in das vorliegende Buch aufgenommen.
Zwischen den lyrischen Texten finden Sie längere Texte in Prosa. Sie stammen aus neuerer Zeit und sollen helfen, die Zusammenhänge leichter zu erkennen und die Gedanken zu vertiefen. Dabei habe ich Ergebnisse der Regel-forschung außer Acht gelassen, da sie nicht Thema des Buches sind. Zu bedenken ist, dass Benedikt nicht alle Regelkapitel selbst schrieb. Zwar wähle ich der Einfachheit halber ohne Unterschied Formulierungen wie »Benedikt schreibt: …«, doch manches hatte er von anderen übernommen. Immerhin war er es aber, der sorgfältig übernahm, wegließ und ergänzte. Als Endredakteur der Regel können wir ihn also ansehen.
Ich danke allen, die mich bei diesem Projekt in vielfältiger Weise unterstützt haben, meinen Mitschwestern und vor allem Hannelore Bares und Professor Werner Schüßler, die den entscheidenden Anstoß zur Veröffentlichung gaben und mir hilfreich zur Seite standen.
Sr. Mirijam Schaeidt OSB | Trier, im Dezember 2010 |
Erster Teil
Das Leben tanzen
Ich liebe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge. Augustinus
Leben – ein Tanz? Nein, ist Leben nicht eher ein Marathon, ein Rennen um den ersten Platz? Ein Kampf ums Überleben? Andersherum: ein ständiges Sich-Ducken, damit man nicht allzu viele Wunden abbekommt? Oder aber ein kurzes Genießen in vollen Zügen, bis Krankheit und Tod uns einholen? Ist Leben ein nie zu stillender Durst? Eine Enttäuschung ohne Ende, weil es seine Versprechen nie einhält? Ein endloses Hintergangenwerden, bis wir nichts mehr haben, was hintergangen werden könnte, weil wir nichts mehr sind?
Oder doch – ein Tanz? Warum eigentlich nicht? Tänze sind auch nicht immer leicht. Zumindest die Materie, die einen guten Teil von uns ausmacht und ohne die wir nicht leben könnten, tanzt uns ständig etwas vor, von den Elementarteilchen in den Atomen bis zu den Sternen und Galaxien. Woher hat sie nur den Schwung?
Mit Fragen beginnt dieses Buch. Fragen zum Frag-würdigsten, was es gibt: dem Leben selbst. Aus Fragen entstanden die folgenden Gedichte. Aber nicht nur aus Fragen, sondern ebenso aus der Meditation von überlieferten Antworten und eigenen Erfahrungen. Die Antworten stammen ebenfalls von Fragern und Fragerinnen. Hier ist es vor allem Benedikt von Nursia, der große Frager und Hörer, geprägt von vielen anderen, die wie er fragten und hörten. Er hat seine Antworten nicht in klugen Abhandlungen überliefert, sondern in einer kleinen schlichten Regel für Menschen, die in einer monastischen Gemeinschaft leben wollen.
Aber sind es wirklich Antworten? Er verweist auf die eine Antwort: auf Jesus Christus, auf die Führung des Evangeliums. Er scheint nicht im Geringsten daran zu zweifeln, dass uns diese Führung zur Antwort, zur Erfüllung bringt. Und er lädt ein zu hören. Alle Weisungen in den einzelnen Kapiteln seiner Regel dienen nur diesem »Hören«, dieser Offenheit für Gottes Geist, für das Wort der Liebe, das Gott uns zuwendet und in Jesus Christus Fleisch wird. Das Hören soll so gut wie möglich gelingen können, bei Schwachen und Starken, Intellektuellen und Schlichten, Praktikern und Philosophen. So beginnt also Benedikts Regel: »Höre!«5 Was daraus wird, überlässt er dem Heiligen Geist und der Bereitschaft der Adressaten seiner Regel, dabei zu sein und mitzumachen.
Wer fragt, will eine Antwort. Wer fragt, spitzt die Ohren, um die Antwort zu hören. Wer fragt, lernt hören. Und wer hört, steht bereits in Beziehung zu dem, der spricht. Er muss sich einstellen auf die Person, die spricht, genauso wie die Tänzerin auf ihren Partner und umgekehrt. Für Benedikt ist es klar, wer der Partner ist, der uns die Hand reicht: der einladende Gott, der die Welt erschaffen hat, dem jeder Mensch am Herzen liegt und nach dem der Mensch sich zutiefst sehnt, ob er es weiß oder nicht.
Komm
Hörst Du die lichte Melodie?
Schwing Dich hinein
lass Dich los
lass Dich ein
tanz doch bloß
Komm, ich lad’ Dich ein
in die strahlende Melodie
Ein Tanz ohne Musik geht nicht. Aber wovon singt die »Musik«, die ich hier meine? Sie singt von einer lebendigen Präsenz, von einer unendlichen Liebe, nicht als diffuse Kraft, sondern als Person, hier und jetzt. Benedikt spricht vom »gütigen Vater«. Liebe kann immer nur Person sein, weil sie immer persönlich ist, den Geliebten ganz persönlich meint, immer im Hier und Jetzt. Es singt durch Dein ganzes Leben hindurch, auch im Dunkeln, die Liebe in Person, die das All erschaffen und einen Blick für Dich hat. Das ist Dein Schwung, aus dem heraus Du den ersten Schritt in den Tanz der Liebe tust, den ersten Schritt ins Vertrauen.
Wenn Benedikt seine Regel mit dem Wort »Höre« beginnt, will er uns dorthin führen: diese liebevolle Gegenwart Gottes, die Gegenwart des ICH-BIN-DA, die er durch das Zeugnis der uralten Überlieferungen des Alten und Neuen Testamentes und von gläubigen Menschen kennengelernt und selbst erfahren hat, wahr-zu-nehmen, ihr zu vertrauen, aus ihr und auf sie hin zu leben.
Wer sich einlässt, lernt mit der Zeit, wirklich zu lieben: Gott, die Mitmenschen, sich selbst.
Nimm und lies
Nimm und lies
das heil’ge Wort
es weckt Dich
Das Leben sprießt
Er spricht ja dort
im Osterlicht
Komm, steh auf
Er ruft Dich
Lauf ins Licht!
Hören? Ja, aber was? Wohin? In den Äther hinein? Wer so praktisch fragt, kann sich ruhig zu unserem Benedikt setzen, denn der dachte ebenso praktisch, konkret. Er war vertraut mit der »Lectio Divina«, die viele Nonnen und Mönche in den Klöstern sowie andere Christen bis heute praktizieren. Das ist eine konkrete Form des Hörens, des betenden Lesens der Bibel. Hören auf das Wort Gottes, das in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Und ins eigene Herz: »Neige das Ohr deines Herzens«6, heißt der zweite Satz des Regelprologs. Aber ein Herz, das eben auf Gottes Wort hört. Von dort aus gestaltet sich dann ganz natürlich das Hören in den Alltag hinein, in die konkreten Situationen, in die Zeichen der Zeit, in das Leben der Mitmenschen, um ihnen angemessen zu dienen.