Simon Bundi

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer


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wenn auch noch abstrakt und knapp formuliert – bereits die Geschichte als Legitimation am Horizont auf, um daraus die kommunalen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger abzuleiten. Konstitutiv für die vormoderne Stadt Chur war die Zunftordnung von 1465 gewesen. Mit ihr bildete sich ein frühneuzeitlicher Kommunalismus aus. Die Stadt hatte sich als politisch-soziale Einheit immer mehr Kompetenzen und Aufgaben angeeignet. Damit einher war eine starke lokale Reglementierung und Hierarchisierung der städtischen Gesellschaft gegangen. Gerade in Chur war die amtliche Erfassung und Kontrolle der Hintersassen in der Frühneuzeit besonders stark ausgeprägt gewesen. Der Kommunalismus hatte ab dem 16. Jahrhundert nicht nur in der zünftischen Stadt Chur eine altrepublikanische Staats- und Demokratieform ausgebildet. Kommunalistische Tendenzen und die damit einhergehende Regulierung der Rechte und Pflichten der Hintersassen waren – gemessen an den normativen Quellen – vor allem eine Sache der reformierten Gebiete, wie insbesondere eine Durchsicht der rätoromanischen Rechtsquellen in Kapitel 2 gezeigt hat. Während ich auf die überwiegend katholisch-rätoromanischen Regionen Surselva und Surses weiter unten eingehe, kann hier Folgendes festgehalten werden: Das reformierte Engadin, die Val Müstair und das obere, reformiert-rätoromanische Albulatal weisen analog zur Stadt Chur eine Kontinuität zwischen dem in der Frühneuzeit kodifizierten Ausschluss der Hintersassen und der institutionalisierten Abgrenzung von Bürgergemeinden und Politischen Gemeinden nach 1875 auf. Aus dem Setting der 67 geprüften Gemeinden wird dies am früh etablierten Gemeindedualismus von Bergün/Bravuogn (Albulatal), Sent, Bever, S-chanf, Silvaplana, Sils im Engadin/Segl und St. Moritz sowie Fuldera, Lü, Valchava und Santa Maria (Val Müstair) deutlich. Die Kontinuität der altrepublikanischen Regulierung soziopolitischer und wirtschaftlicher Verhältnisse in den Gemeinden blieb im Übrigen nicht auf das Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen beschränkt. Sie zeigt sich auch darin, dass vier der fünf Gemeindeverfassungen, die im ganzen Kanton 1868 gedruckt vorlagen, aus dem Engadin stammen.205

      Sucht man nach Gründen für die Reglementierungen gegenüber den Hintersassen in den altrepublikanisch verfassten Nachbarschaften, so hat die Forschung bereits für die Frühe Neuzeit darauf hingewiesen, dass eine akute Gefährdung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage gerade im Engadin wohl in den wenigsten Fällen ausschlaggebend war. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts habe ich gezeigt, dass die Wortführer des Bürgervereins Risch, Honegger, Simmen und Lendi in der Debatte in der Bündnerischen Volks-Zeitung 1868 finanzielle Eigeninteressen durchaus als handlungsleitende bürgerliche Tugend eingeräumt haben. Schliesslich hatte die Bürgerschaft im Juni 1875 auch auf einer Vermögensabgrenzung mit der Politischen Gemeinde beharrt. Doch selbst als die Wortführer des Bürgervereins ihren «Bürgersinn» als Entgegenkommen den Niedergelassenen gegenüber stark gemacht haben, war dieser mitnichten frei von finanziellem «Eigensinn». Im Zuge der Vorschläge für eine neue Stadtverfassung von 1868 hatte der Bürgerverein im Mai 1868 für einen erleichterten Einkauf ins städtische Bürgerrecht plädiert, ein Vorschlag, der 1870 von der Bürgerschaft angenommen worden war.206 Die Einkaufsgebühr betrug mit 600 Franken für einen männlichen Erwachsenen aber immer noch über die Hälfte des Jahreslohnes eines Zürcher Industriearbeiters.207 Der Grund dafür, dass die finanzielle Hürde kaum tiefer angesetzt wurde, dürfte darin gelegen haben, dass man das Armengut nicht mit potenziell armengenössigen Neubürgern teilen wollte. Gerade vor dem Hintergrund, dass ein Grossteil der Churer Gemeindebürger um 1870 tatsächlich der städtischen Mittel- und Oberschicht angehörte, mochte dies als schwacher Beweis für ein uneigennütziges, gemeinwohlorientiertes Handeln erscheinen.

      Val Calanca und Misox: ökonomische Eigeninteressen als Existenzgrundlage

      Dass ökonomische Existenzprobleme zumindest in einigen Gemeinden dieser beiden Täler – die notabene bereits das Niederlassungsgesetz verworfen hatten – eine unmittelbare Rolle gespielt haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Belegt wird dies zum einen durch die Inventare, wie sie in der Val Calanca für Arvigo, Buseno, Cauco, Rossa, im Misox für Mesocco und Verdabbio aufgestellt wurden. Anders als in Chur, wo der überwiegende Teil der Gemeindebürger zur städtischen Mittel- und Oberschicht gehörte, kann hier ein gewisser wirtschaftlicher Problemdruck, dem diese Gemeinden zweifelsohne ausgesetzt waren, vorausgesetzt werden. Die Vermögensabgrenzungen erscheinen hier als Mittel, die ökonomische Existenzgrundlage zu sichern.

      Die Wirtschaft beider Täler basierte überwiegend auf Vieh- und Alpwirtschaft. In der ganzen Region wurde zudem der Wald bis in die 1860er-Jahre überintensiv genutzt.208 In der Val Calanca wurden Alpen, Weiden und Wälder bis 1866 periodisch auf die elf Gemeinden des Tales verlost. Nach der Aufteilung dieser Güter auf die Gemeinden kam es zu Streitigkeiten, was die Sensibilität der Gemeindebürger für diese Güter zusätzlich verstärkt haben dürfte.209 Ökonomische Ängste haben demnach in beiden Tälern wohl dazu geführt, dass man den Wald und die Alpen als korporativen Besitz ausgeschieden hat. Mit ihren Inventaren, dem Bürgerrat und der Bürgerversammlung machten die erwähnten Gemeinden aus dieser Region deutlich, dass nicht nur die Bürgerlöser und der Armenfonds, sondern auch das Nutzungsvermögen im Besitz einer eigenen Institution blieb, die sich selbst verwaltete.

      Gegebenenfalls mögen recht hohe Anteile Niedergelassener diese ökonomischen Überlegungen gefördert haben. Mesocco hatte eine Bürgerquote von 73 Prozent, in Verdabbio waren 61 Prozent der Einwohner Gemeindebürger.210 Auch die abgelegene, an das Misox anschliessende Val Calanca hatte nur zum Teil sehr hohe Bürgerquoten. In Buseno waren es 91 Prozent, in Rossa 77 Prozent, in Cauco 74 Prozent und in Arvigo 57 Prozent.211

      Die katholische Surselva und das katholische Mittelbünden: Werte «von der Kanzel herunter»

      Daneben gab es Regionen wie die katholisch-rätoromanischsprachige Surselva (vor allem die Kreise Disentis, Rueun und Lumnezia, teilweise der Kreis Ilanz), ferner das katholisch-rätoromanischsprachige Mittelbünden (Kreis Surses und Teile der Kreise Alvaschein und Belfort), in denen bis zum Ersten Weltkrieg keine Bürgergemeinden gegründet wurden. Einerseits könnte das darauf zurückzuführen sein, dass Regionen, die wie der Kreis Disentis im Jahre 1880 noch 92 Prozent Gemeindebürger aufwiesen,212 in keinster Weise einen Problemdruck zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen gespürt haben. Andererseits waren diese Regionen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr stark agrarisch geprägt213 – das Bedürfnis, das Eigentum am Nutzungsvermögen von den Niedergelassenen zu trennen, wäre analog zur Val Calanca oder zum Misox auch im katholischen Nordwest- und Mittelbünden denkbar gewesen.

      Im Gegensatz zu den katholisch-italienischen Tälern Misox und Calanca ist die politische Kultur des katholisch-rätoromanischen Teils Graubündens gut erforscht. Es scheint deshalb lohnenswert, für diese Regionen einige Unterschiede zur bürgerlichen politischen Kultur aufzuzeigen, wie sie in Umrissen für die Stadt Chur bereits beschrieben wurde. Damit kann zum einen ein erster Erklärungsansatz als Antwort auf die Frage geliefert werden, warum sich in den katholisch-rätoromanischen Gemeinden der Surselva und Mittelbündens zumindest bis zur Jahrhundertwende kein Gemeindedualismus herausgebildet hat. Zum anderen geht es im Folgenden aber auch darum, die der Annahme des Niederlassungsgesetzes zugrundeliegende Deutungskultur aufzuzeigen.

      Anders als in den reformierten Regionen Graubündens war die Verzahnung von Staat und Kirche vor allem in den ehemaligen Gerichtsgemeinden der oberen und mittleren Surselva, namentlich in den heutigen Kreisen Disentis und Rueun, nie ganz gelöst worden (siehe Kapitel 2.1). Auffällig ist auch, dass sich in der Frühen Neuzeit in der katholischen Surselva ein nachbarschaftlicher Kommunalismus, der sich etwa durch die vermehrte Übernahme gerichtlicher Kompetenzen auf lokaler Ebene auszeichnete, nicht herausgebildet hat. Damit einher geht der Befund, dass normative Quellen zu den Rechten und Pflichten der Hintersassen in dieser rätoromanischsprachig-katholischen Region gänzlich fehlen. Der eigenständige, selbstorganisierte Lokalismus war also bereits in vormoderner Zeit weniger ausgeprägt.

      Meines Erachtens liegt in den Formen politischen Engagements ein erster zentraler Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer katholischen politischen Kultur surselvischer Prägung: Während in Chur lokale oder überregionale,