Tagblatt, einem Organ, das seit einem Besitzerwechsel 1870 eine konservative Politik mitgestaltete.162 Das Klagelied eines alten Bürgers erschien am 5. März 1875. In gereimten Versen war zu lesen, der Gemeindebürger werde jetzt «Aecht eidgenössisch g’schunden». Und weiter dichtete der anonyme Autor: «Der Ruf nach ‹Neuem› nur erschallt/Der Fortschritt weiter dränget:/Bald ist kein Tannast mehr im Wald/An dem kein Schuldschein hänget-/Dem Bürger graut’s dermalen, /Wer soll das Alles zahlen?!»163 Neben der bekannten Klage über den Verlust des Althergebrachten findet sich zum ersten Mal die Kritik, das Niederlassungsgesetz sei ein (gar in Bundesbern ausgehecktes) zentralistisches Projekt, das die Gemeindeautonomie beschneide. Hinzu kam der Kostenpunkt. Man kann dies in zweierlei Hinsicht verstehen: erstens als Furcht vor steigenden Kosten aufgrund neuer Vorschriften. Die kommunale Orientierung band sich im modernen Kanton Graubünden von Anfang an nicht nur an altrepublikanische Partizipationsberechtigungen, sondern auch an die «Furcht vor den Kosten der Modernisierung».164 Zweitens lassen sich die Verse als Anspielung darauf verstehen, dass die Verwaltung neu von der Gesamtgemeinde übernommen wurde. In diesem Fall griff der Autor das bereits in der Grossratsdebatte um das Niederlassungsgesetz von 1853 geäusserte Argument auf, wonach den Niedergelassenen die Fähigkeit für einen sorgsamen Umgang mit dem Nutzungsvermögen abging. Man wird ähnliche Vorstellungen im 20. Jahrhundert noch des Öfteren antreffen, um das Eigentum an Alpen, Weiden und Wäldern und das entsprechende Veräusserungsrecht der Bürgergemeinden zu begründen.
Während sie den Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden unerwähnt liess, feierte die liberale Presse das Resultat als Bruch mit der altrepublikanischen Bürgergesellschaft. Gerade die ortsbürgerschwachen Kreise Chur (827 gegen 3 Stimmen) und Oberengadin (401 gegen 14 Stimmen) hatten das Niederlassungsgesetz überdeutlich angenommen.165 Die Abstimmungsergebnisse konnten nicht allein durch die sehr hohen Anteile Niedergelassener zustande gekommen sein. Dies wäre rechnerisch unmöglich gewesen, geht man von gleicher Stimmbeteiligung bei Gemeindebürgern und Niedergelassenen aus. Im Gegensatz zu dem, «was behauptet wird», hätten Niedergelassene und Gemeindebürger in Chur und im Oberengadin bewiesen, dass sie fortschrittlicher seien als ein guter Teil ihrer Grossräte, kommentierte das Fögl d’Engiadina.166 In diesem Sinn rühmte dieselbe Zeitung nach der Abstimmung, man könne sich nun mit diesem gerechteren und liberaleren Gesetz, als es die meisten Kantone besässen, vor der ganzen Schweiz zeigen.167
Was das Stimmrecht auf Gemeindeebene angeht, wurde das Bündner Niederlassungsgesetz schon am 19. April 1874 von der neuen Bundesverfassung eingeholt, die den Niedergelassenen das aktive und passive Stimmrecht auf Gemeindeebene garantierte.168 Insofern erübrigt sich ein Vergleich mit anderen Kantonen. Anders als die Städte Basel oder Zürich bot die Stadt Bern aber faktisch weniger Partizipationschancen, da das kommunale Stimmrecht bis Mitte der 1880er-Jahre an ein bestimmtes Vermögen und Einkommen gekoppelt war und noch 1910 17 Prozent der in Bundes- und Kantonsangelegenheiten stimmberechtigten Männer in der Stadtgemeinde Bern keine politischen Rechte hatten, weil sie keine Steuern zahlten. Erst 1915 entschied das Bundesgericht, dass ein solcher Steuerzensus aufzuheben sei. Die städtische Gesellschaft der Hauptstadt widersetzte sich im Gegensatz zum Bundesstaat, den die Stadt beherbergte, lange dem Grundsatz einer aus allen mündigen Männern bestehenden bürgerlichen Gesellschaft.169 Ein Blick in das deutsche Kaiserreich zeigt, dass vielerorts bis 1918 zwar nicht der Zugang zum Gemeindevermögen, aber das Kommunalwahlrecht vom Stadtbürgerrecht abhing. Der Erwerb des Stadtbürgerrechts war seinerseits durch das Kriterium der Selbstständigkeit, steuerliche Mindestleistungen oder Einkaufstaxen eingeschränkt. Dieses «Demokratiegefälle von der nationalen zur kommunalen Ebene» (Dieter Langewiesche) war hingegen in britischen Städten weniger ausgeprägt.170
Graubünden war darüber hinaus weiter vom Ideal einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft entfernt als die Kantone Waadt, Neuenburg oder Genf, wo sich im 19. Jahrhundert gar keine rechtliche Abstufung zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen durchsetzen konnte. Und während in Deutschland in der Weimarer Republik mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht für Männer und Frauen eine «vollständige Demokratisierung des Bürgerrechts» einsetzte,171 blieben der aufgeklärt-liberalen Schweiz lange Zeit altrepublikanische Prinzipien inhärent – man denke auf Bundesebene nur an den Ausschluss der Nichtchristen bis 1866 oder der Frauen bis 1971.172
3.4 Aneignungen des Niederlassungsgesetzes. Eine kantonale Übersicht
Allen Beteuerungen der parlametarischen Spezialkommission zum Trotz war eine institutionelle Spaltung der Gemeinde in zwei distinkte Wahl- und Abstimmungskörper und eine Vermögensabgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen im neuen kantonalen Niederlassungsgesetz angelegt. Die Umsetzung einer solchen Gemeindespaltung soll im Detail anhand des gut dokumentierten Beispiels der Stadt Chur dargestellt werden. Danach wird der Fokus auf 67 Gemeinden aus dem ganzen Kanton ausgeweitet (siehe Anhang). Es wäre forschungspraktisch nicht möglich gewesen, für jede Bündner Gemeinde Anhaltspunkte zum Umgang mit dem Niederlassungsgesetz zu erheben. Um zumindest regionale Tendenzen beschreiben zu können, wurden aus jedem Bezirk einige Gemeinden ausgewählt. Die 47 Gemeinden, die zwischen 1875 und 1974 eine institutionelle Abgrenzung und eventuell auch eine Vermögensausscheidung vornahmen, rekonstituierten ein korporatistisch-altrepublikanisches Bewusstsein, dessen Effekte und Implikationen in zahlreichen Bündner Gemeinden bis heute wirkmächtig geblieben sind. Die institutionelle Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen vermochten de jure freilich nicht, die Kompetenzen der beiden Gruppen zu verändern. Das Gesetz erlaubte es aber den ortsbürgerlichen Korporationen, gleichsam als autonome Gemeinde innerhalb oder neben der neuen Gesamtgemeinde weiterzubestehen. 20 Gemeinden nahmen dagegen im Untersuchungszeitraum dieser Studie nie eine institutionelle oder vermögensmässige Abgrenzung vor, sodass in diesen Fällen von einer abgestuften Gemeindeeinheit statt von Gemeindedualismus die Rede sein muss.
Anschliessend geht es um die Frage, wie sich die verschiedenen Aneignungsmuster des Niederlassungsgesetzes erklären lassen. Um die Komplexität der möglichen Antworten zu reduzieren, sollen drei Beispiele isoliert werden, die zudem die Entwicklung ab Mitte des 20. Jahrhunderts ausser Acht lassen.
1. Die Stadt Chur, die Val Müstair und das obere Albulatal, wo Kontinuitäten zum Ausschluss der Hintersassen seit der Frühen Neuzeit auszumachen sind. Am Beispiel Chur kann gezeigt werden, dass finanzielle Eigeninteressen eine viel grössere Rolle spielten als der gerne vorgebrachte «Bürgersinn».
2. Einige der Gemeinden der Täler Calanca und Misox, in denen die frühe institutionelle Abgrenzung mit den ökonomischen Existenzbedingungen erklärt werden kann.
3. Die romanische, katholisch-konservative Surselva, wo bereits vor der Annahme des Niederlassungsgesetzes eine im Vergleich zum kleinstädtischen Milieu Churs gänzlich andere politische Kultur fassbar wird. Die enge Verzahnung von Politik und Kirche trug Entscheidendes dazu bei, dass sich die Gemeindebürger fast überall bis weit ins 20. Jahrhundert nicht in eigenen lokalen Strukturen politisch organisierten.
3.4.1 Gemeindedualismus und abgestufte Gemeindeeinheit
Der Entwurf für die Übergangsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz vom Dezember 1874 hielt fest, es bleibe den bisherigen Bürgergemeinden überlassen, welche Massnahmen sie zur Wahrung ihrer Stellung treffen wollten. Im Grossen Rat wurde beantragt, den Artikel zu streichen, da «durch eine derartige Bestimmung die Schaffung und Erhaltung eines mit Geist und Zweck des Gesetzes im Widerspruch stehenden Dualismus ausdrücklich provozirt [sic!] werden».173 Dagegen wurde zu bedenken gegeben, dass für die «ihnen ausschliesslich reservirten [sic!] Competenzen und Funktionen» eine «gewisse korporative Organisation der Bürger unabweislich geboten erscheine».174 Das Niederlassungsgesetz schien also schon kurz nach seiner Annahme keine tragfähige Grundlage für die Ansprüche einer Einheitsgemeinde zu bieten. Die mit Datum vom 4. Dezember 1874 ausgefertigten Übergangsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz schrieben den Gemeinden schliesslich vor, eine konstituierende Versammlung der Gesamtgemeinde einzuberufen. Für die «rein bürgerlichen Funktionen – nach Art. 16 des Gesetzes» war schliesslich festgelegt worden, dass «die Bürger, wo sie es notwendig