auf der sich «parallel zu den sozialen Veränderungen der Gesellschaft eine Adaption und Erfindung neuer politischer Handlungsformen»94 vollzog. Zum einen werden diese im individuellen Vorgehen Einzelner fassbar, zum anderen als freie Assoziation Gleichgesinnter.
Zu den Bildungsbürgern, die sich auf dieser Bühne hervortaten, gehörten neben Ratsherr Peter Jakob Bauer Stadtpfarrer Christian Kind, der katholische, radikal-liberale Anwalt Julius Caduff, der radikal-liberale Arzt Thomas Gamser oder auch der gemässigt liberale Peter Conradin von Planta.95 Diese Akteure machen deutlich, wie der Kampf gegen das vorherrschende Deutungsmuster des Altrepublikanismus ein gewisses Mass an individuellem Handeln erforderte, um in der immer durch bestimmte Zwänge und Anforderungen geprägten «ungesellige[n] Geselligkeit der bürgerlichen Gesellschaft»96 neue Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen: So galt Caduff als «kernhafter Radikaler» – eine für einen Katholiken aus der Surselva bereits in den 1860er-Jahren durchaus untypische Positionierung.97 In Eigenregie legte er 1866 den Entwurf einer neuen Bundesverfassung vor, worin er unter anderem die Volkswahl des Bundesrats und das obligatorische Referendum forderte.98 Peter Conradin von Planta hatte nicht nur 1842 als 27-jähriger Anwalt mit wenigen Mitstreitern den liberalen Bündner Reformverein gegründet. In seinem für die Kantonsregierung ausgefertigten Commissionalbericht über den Vorschlag zu einer Gemeinde-Ordnung von 1854 war er ein früher Mahner der Gleichstellung der Niedergelassenen in Gemeindeangelegenheiten und schliesslich 1866 treibende Kraft der Vorlage für eine liberalere Stadtverfassung gewesen – wenn auch Letztere in der Presse als schlechter Kompromiss gescholten worden war. Nicht zuletzt aber hatte derselbe Peter Conradin von Planta bereits 1846 als junger Churer Stadtschreiber aus Empörung einen kritischen Artikel im Freien Rhätier geschrieben. Das, nachdem die Stadt einem ihrer Gemeindebürger, der in Italien zum Katholizismus konvertiert war, faktisch das Bürgerrecht entzogen hatte.99 Der Preis für seinen liberalen Einsatz, mit dem er individuelle Freiheitsrechte über die Werte der Churer Bürgerkorporation gestellt hatte, war hoch gewesen. Bei der nächsten Wahl hatte Peter Conradin von Planta zur Kenntnis nehmen müssen, «dass meine Tage als Stadtschreiber gezählt seien».100
Neben diesen Handlungsmöglichkeiten Einzelner zeigen die im Diskurs von 1868 hervorgetretenen Bürgervereine und der Reformverein, wie nach der Entgrenzung der Stadtbürger aus Bindungen wie den Zünften neue politische Handlungseinheiten entstehen konnten. Bereits 1842 gründeten einige Churer aus «Mangel an Einheit unter uns» den ersten Churer Bürgerverein. Der «Wunsch des Gedankenaustausches, Bürger gegen Bürger und Bürger gegen Obrigkeit», sei «gross und mannigfaltig», stand in den ersten Statuten. Der Zweck dieses ausdrücklich nur den Churer Gemeindebürgern offenstehenden Vereins war sehr allgemein umschrieben: «[A]ller Art gemeinnützige Gegenstände in unserem Gemeinwesen nach Kräften fördern zu helfen, um bei allfällig vorkommenden Übelständen von sich aus, sei es auf dem Wege der Einlagen oder des gesetzlichen Petitionsrechtes, gehörigen Orts einzukommen.»101 Dieser Versuch, mit einem Verein eine neue Identität nach innen und eine Abgrenzung nach aussen herzustellen,102 wurde auf eine möglichst breite Basis gestellt; jeder Gemeindebürger ab 18 Jahren hatte Zutritt zum Verein.103 Die strikte Abgrenzung nach aussen bedeutete im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen keine soziale Distinktion nach «oben» oder «unten»,104 sondern potenziell einen Längsschnitt durch alle Schichten der Churer Bevölkerung: Die prekär gewordene rechtliche Stabilität nach Ende der über 350-jährigen Zunftverfassung sollte mit diesem frühen politischen Verein stabilisiert werden. Weitere Quellen zu diesem frühen Churer Bürgerverein fehlen jedoch gänzlich.105 Trotzdem lässt sich festhalten: Für Chur war ein politischer Verein als freie Assoziation aller Gemeindebürger etwas völlig Neues. Dies hatte es im vormodernen Chur, als die Stadtbürger gestützt auf ein kaiserliches Privileg aus dem 15. Jahrhundert via Zünfte das politische und ökonomische Leben regelten, nicht gegeben.106 Im weiteren Kontext der Bündner Politik ist der Churer Bürgerverein als eine der ersten konservativ ausgerichteten Vereinigungen im modernen Kanton Graubünden zu bezeichnen.107 Zentrales Anliegen war, den politischen Wahl- und Abstimmungskörper der Stadt Chur als Bürgerkorporation zu erhalten, weniger die Autonomie der Stadt gegenüber dem Kanton.
Wer aber waren die Träger dieses Bürgervereins, oder, mit anderen Worten: Welche Rolle haben die alten Eliten in dieser freien Assoziation in Chur gespielt? Die Frage scheint umso gerechtfertigter, da in Chur wie im übrigen Kanton Graubünden Mitglieder der 40 Familien der aristokratischen Führungsschicht des Freistaats108 die hohen Ehrenämter zwischen 1637 und 1798 mehrheitlich unter sich aufgeteilt hatten. Unter den wenigen namentlich bekannten Mitgliedern des Bürgervereins von 1868 (Risch, Honegger, Simmen, Lendi, Hatz und Kind) wurden zwei Familien (Simmen um 1855, Honegger um 1859)109 erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Churer Gemeindebürger. Risch, Lendi, Hatz und Kind gehörten zwar älteren Churer Geschlechtern an, Mitglieder der alten Bündner Führungsschicht waren aber auch sie nicht. Dabei lebte in den 1870er-Jahren durchaus noch eine Anzahl solcher Familien (die Bavier, die Salis, die Sprecher oder die Tscharner) in Chur.110 Dasselbe Bild ergibt sich im Übrigen auch für den nur aus Gemeindebürgern zusammengesetzten Stadtrat: Vergleicht man diese Behörde stichprobenartig mit sämtlichen Familien, die zwischen 1637 und 1798 mehr als ein hohes Ehrenamt besetzt haben, findet man für die elfköpfige Stadtbehörde von 1847 mit einem von Salis und einem (von) Bavier zwei,111 für jene 15-köpfige von 1872 mit einem (von) Bavier und einem Sprecher wiederum nur zwei Übereinstimmungen.112 Die alten Eliten verloren demnach in Chur im 19. Jahrhundert in den politisch relevaten Gremien rasch an Übergewicht. Hinweise, dass sie in freien Assoziationen wie dem Bürgerverein eine wichtige Rolle gespielt hätten, fehlen ebenfalls. Anders als in den Städten Bern oder Zürich kann deshalb von einem «Kampf [der neuen Eliten, S. B.] gegen die aristokratischen konservativen Herren und ihren Anhang»113 nicht die Rede sein. Demgegenüber betont die Forschung für die grossen ehemaligen Städteorte Basel und Bern eine Kontinuität der alten Eliten bis in das 20. Jahrhundert, die mit einer ausgeprägten Affinität zur vormodernen Tradition bis hin zum adligen Selbstverständnis einherging.114
Dies heisst nun nicht, dass es im Kanton Graubünden des 19. Jahrhunderts keine politisch aktiven Mitglieder der alten Eliten gab. Nur war ihre politische Ausrichtung wahrscheinlich oft eine andere als in Basel oder Bern: Was bereits mit den politischen Handlungen Peter Conradin von Plantas angedeutet wurde, hat Adolf Collenberg verallgemeinert: «Gerade die alte Landaristokratie war hier Trägerin des liberalstaatlichen und wirtschaftlichen Fortschritts.»115 Anfang der 1870er-Jahre trat im Bündner Grossen Rat ein Akteur für die Rechte der Niedergelassenen auf, der für seinen Biografen – wiederum Peter Conradin von Planta – «unstreitig der bedeutendste bündnerische Staatsmann dieses Jahrhunderts»116 war: Andreas Rudolf von Planta aus Samedan im Oberengadin. Tatsächlich gilt Andreas Rudolf von Planta dank des Niederlassungsgesetzes von 1874 bis heute als «weitblickender Staatsmann»,117 der eine für damalige Verhältnisse liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft dort zu realisieren versuchte, wo das bisher auf den Widerstand der Altrepublikaner gestossen war: in den Gemeinden.
In der ersten Hälfte der 1870er-Jahre startete der Kanton den zweiten Versuch, die Niederlassung neu zu ordnen. Mit einer Motion versuchte Grossrat Andreas Rudolf von Planta, die altrepublikanische Partizipationsstruktur zu zerbrechen. Mit dem daraus entstandenen Niederlassungsgesetz schnitt der Kanton tief in die altrepublikanisch organisierten Gemeinden ein und traf mit der zwingenden Erweiterung der Partizipationsberechtigung einen Teil der Gemeindeautonomie. Die Argumente der parlamentarischen Spezialkommission um Nationalrat Andreas Rudolf von Planta reproduzierten im Wesentlichen das aufgeklärt-liberale Argumentarium der 1850er- und 1860er-Jahre, ohne jedoch explizit bürgerliche Werte zu bemühen. Der Gesetzesentwurf erlaubte den Gemeindebürgern, nur mehr wenige ihrer Rechtsprivilegien zu behalten. So wollte man eine Trennung der politischen Rechte und der Rechte am Gemeindevermögen weitgehend vermeiden. Diese modernen Grundsätze wurden in der liberalen und katholisch-konservativen Presse als Garanten der Gemeindeeinheit hervorgehoben, während öffentliche Kritik am neuen Gesetz nur isoliert auftauchte.
3.3 Der Bruch mit der Hegemonie der Gemeindebürger
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