1830er-Jahren «gemächlich».103 Zwar versuchte der Grosse Rat in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit einer Fülle von Verordnungen und Reglementen auf dem Wege des Landespolizeirechts im Bereich Sanität, Transit, Schulen, Militär, Kirchen, Jagd, Strassenbau oder Forstpolizei, den Staat auszubauen. Liberale Etatisten wie der Jurist Peter Conradin von Planta kritisierten dennoch den «Korporationengeist» und forderten eine Überwindung des «Egoismus und Vereinzelungswesens».104 1841 gründete von Planta in Chur den Reformverein.105 Dieser sah das staatliche Ungenügen vor allem in der Autonomie der alten Gerichtsgemeinden, im veraltet-unübersichtlichen Gerichtswesen und in der schwachen Regierung.106 Die 1843 von Peter Conradin von Planta erstmals herausgegebene Zeitung Der freie Rätier diente der populären Aufklärung seiner Leser und behandelte Reformpostulate aus den Sparten Wirtschaft, Waldwesen, Verbauungswesen, Schulwesen oder Armenwesen.107 Der Verfassungsentwurf des Reformvereins von 1845 sah das erste Mal seit der Zeit der Helvetik eine Normierung des Gemeindewesens vor, dies betraf jedoch nur die Verwaltung, ohne die Rechtsstellung von Gemeindebürgern und Niedergelassenen zu tangieren.108 Die Spannung zwischen dem modernen Kanton und den alten Gemeindestrukturen war also noch, vereinfacht gesagt, ein Problem zwischen dem Kanton und der Autonomie der Gemeinden, nicht eines zwischen dem Kanton und den Gemeindebürgern als alleinigen Trägern dieser Gemeindeautonomie.
Nebenbei deutet dieser kurze Abriss der modernen Verfassungs- und Rechtsgeschichte Graubündens bereits an, wie sich im 19. Jahrhundert ein politisches Feld im heutigen Sinne konstituiert hat.109 Der Wandel der politischen Strukturen wurde zum Aushandlungsprozess. In den drei folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wo, wann und warum das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen das wurde, was es im Ancien Régime nie gewesen war: ein Problem, um dessen Lösung verschiedene Kräfte auf verschiedenen Bühnen gerungen haben.
3 Vom Niederlassungsgesetz 1853 zum Niederlassungsgesetz 1874
Der Aushandlungsprozess um eine Ausweitung der kommunalen Partizipationsrechte auf alle Schweizer begann in Graubünden mit der Debatte um das kantonale Niederlassungsgesetz von 1853 im Grossen Rat. Damit standen zwar nicht einzelne Kompetenzen der Gemeindeautonomie zur Diskussion. Der Versuch, die korporativ abgeschlossenen Wahl- und Abstimmungskörper der Gemeinden drastisch zu erweitern, rief dennoch den Widerstand altrepublikanisch gesinnter Grossräte hervor. Bereits in dieser frühen Phase wird ein Grossteil des Argumentariums fassbar, das phasenverschoben und in weitaus elaborierterer Form bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts von den Verfechtern der Rechtsprivilegien der Gemeindebürger vorgebracht werden sollte. Das seit dem frühen 19. Jahrhundert bestehende Spannungsverhältnis zwischen einem modernisierenden Kanton und den altrepublikanischen Prinzipien der Gemeinden kam jedoch noch nicht explizit zur Sprache.
3.1 De jure ein Status quo
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die staatsrechtliche Gestalt des Kantons «auf einen Schlag eine fundamentale Veränderung».1 Mit dem neuen Gebietseinteilungsgesetz vom 1. April 1851 war es den liberalen Grossräten gelungen, die noch aus der Frühneuzeit stammenden Gerichtsgemeinden aufzulösen. An ihre Stelle traten die 39 neu geschaffenen Kreise, die aber lediglich gewisse gerichtliche Kompetenzen erhielten. Die eigenständige staatsrechtliche Stellung der ehemaligen Gerichtsgemeinden wurde drei Jahre später in der neuen Kantonsverfassung auf die 223 ehemaligen Nachbarschaften übertragen, aus denen nun «mit grosser Autonomie ausgestattete Gemeinwesen mit Staatsqualität» entstanden.2 Aus diesem Grund ist Graubünden bis heute kein «Einheitsstaat», sondern als «Bundesstaat mit Gemeindestaatlichkeit» ein atypisches Mittelding.3
Allein, die rechtliche Reorganisation der neuen 223 Gemeinden stellte für die Kantonsbehörden, so bringt es Peter Metz auf den Punkt, «ein überaus heikles und umstrittenes Problem»4 dar. Ab Mitte des Jahrhunderts stand der Kanton damit praktisch allein 223 Gemeinden gegenüber.5 Dies war das Spielfeld, auf dem sich der nach Vereinheitlichung strebende Kanton und die Gemeinden mit ihrer überkommenen Vorstellung von Autonomie trafen.6 Was die innere Organisation und rechtliche Ausgestaltung der Gemeinden anging, verhielt sich der Kanton zögerlich: Weder im Gebietseinteilungsgesetz von 1851 noch in der Kantonsverfassung von 1854 wurden entsprechende Artikel aufgenommen.7 Der in Chur erscheinende Liberale Alpenbote kritisierte deshalb 1852, das Gemeindewesen im Kanton Graubünden finde sich «bekanntlich total seinem Schicksal überlassen. Ob und welche Gemeindeordnungen bestehen, ob Gemeinderäthe oder bloss sog. Vorstände bestehen, ob und wie Rechnung abgelegt werde, ob das Gemeindevermögen gut oder schlecht verwaltet werde: um das Alles kümmert sich der Staat so zu sagen gar nichts [sic!]».8
In diesem Spannungsfeld tauchte nun im Juli 1851 die strittige Frage um eine kantonale Neuordnung der Niederlassung in den Gemeinden auf. Zweifellos war dies ein Bereich, bei dem der Kanton die Möglichkeit hatte, tief in die korporative Rechtsstruktur der Gemeinden einzugreifen, ihnen also einen beträchtlichen Teil ihrer Selbstbestimmung zu nehmen. Auf Bundes- und Kantonsebene waren bereits alle Schweizer Niedergelassenen den Gemeindebürgern gleichgestellt, wobei es eine Gruppe niedergelassener Churer gewesen war, die beim Bundesrat hatte rekurrieren müssen, um den entsprechenden Artikel 42 der neuen Bundesverfassung in Graubünden durchzusetzen. Ein Anfang 1849 in Kraft getretenes kantonales Gesetz hatte nämlich den niedergelassenen Kantonsbürgern zwar das aktive, nicht aber das passive Wahlrecht gegeben.9
In der Diskussion im Grossen Rat vom Juni 1852 gab das Thema wie schon in der Standeskommission «zu weitläufigen Erörterungen Veranlassung».10 In Hinblick auf die Nutzungsrechte der Niedergelassenen am Nutzungsvermögen mahnte ein Abgeordneter, nicht hinter die kantonale Norm von 1807 zurückzugehen, wonach die damaligen Gerichtsgemeinden angehalten worden waren, allen Kantonsbürgern das Nutzungsrecht gegen eine angemessene Taxe zu gewähren. Andernfalls überlasse man es «der Willkür der Gemeinden», die Niedergelassenen von allen Nutzungen auszuschliessen oder «die exorbitantesten Bedingungen daran zu knüpfen».11 Das Plädoyer für einen Kanton, der für alle dieselben wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen sollte, verband sich mit dem Argument, dass durch den Ausschluss der Niedergelassenen das «für unseren Kanton und dessen zeitgemässe Fortentwicklung so bedeutsame Prinzip der freien Niederlassung in vielen Fällen illusorisch gemacht, und der Kanton der daraus herfliessenden Vortheile zum grossen Theil beraubt» werde.12
Von konservativer Seite wurde diesem individualistischen Prinzip die Korporation der Gemeindebürger als historisch gewachsener Wert entgegenstellt, indem «auf den Sinn und Werth des Bürgerthums, wie er sich seit jeher festgestellt und bis zur neuesten Zeit anerkannt worden ist», aufmerksam gemacht wurde.13 Dadurch, dass die Gemeindebürger alleine die Eigentums- und Verwaltungsrechte besitzen, seien sie in
ihren nächsten Interessen auf’s innigste an ihre Heimath geknüpft […] wodurch allein der Bestand von Gemeinden als Grundpfeiler des ganzen Staatsorganismus, wie sie es bei uns sind und hoffentlich bleiben werden, ermöglicht wird. […] Ebenso sei ein lebendiges natürliches Interesse für eine tüchtige Gemeindsverwaltung nur bei der Bürgerkorporation selbst, nicht aber bei den zufällig und vorübergehend Niedergelassenen gedenkbar, vielmehr werde sich bei letztern diesfalls ein natürlicher Indifferentismus zeigen.14
Dies war zwar noch keine Diskussion um selbstlosen «Bürgersinn» oder egoistischen «Eigensinn», doch findet sich bereits eine Reihe von Argumenten, die von den Verfechtern der Rechte der Gemeindebürger in weit elaborierterer Weise noch bis in die 1970er-Jahre in verschiedenen Phasen und unterschiedlicher Gewichtung vorgebracht werden sollten: So liest man schon, dass nur die Gemeindebürger für den politischen und wirtschaftlichen Erhalt der ganzen Gemeinde geeignet seien. Dieser Befund wird historisch legitimiert und ist aus dieser Sicht umso dringender, weil gleichzeitig den Gemeinden die wichtigste Funktion im Schweizer Staatsaufbau zugeschrieben wird. Diese «alten Rechte» der Gemeindebürger sollten in den 1890er-Jahren eine erste Konjunktur erleben, während die besonderen Eigenschaften der Gemeindebürger als staatserhaltender Kern der Gemeinschaft vor allem ab der Zwischenkriegszeit ins Feld geführt werden sollten. Dass nur sie zu einem «tüchtigen» Umgang mit den Bodenreserven