Simon Bundi

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer


Скачать книгу

wie das Oberengadin, Bivio/Marmorera, St. Peter (Schanfigg) oder die zu Hochgerichten zusammengefassten Gerichtsgemeinden des Prättigaus übertrugen den Nachbarschaften Aufgaben wie den Strassenbau und -unterhalt.52 Gegen aussen wurden die territorialen Grenzen der Nachbarschaften anlässlich von Konflikten um Weiden und Wälder festgelegt, so in der Domleschger Gerichtsgemeinde Ortenstein. Aufgrund des «Streben[s] nach lokaler Aufwertung» vervielfachte sich die Zahl der Marktorte zwischen 1500 und 1790 um den Faktor fünf, ohne dass die Bevölkerung oder das Absatzvolumen anstiegen. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Kirchgemeinden von 100 auf 200.53

      Diesbezüglich zeigt sich ein weiterer Unterschied zur oberen und mittleren Surselva, wo die Gemeinden teilweise bis heute überdurchschnittlich gross sind, weil sie eine Reihe von Dörfern umfassen: Der politische Partikularismus auf Ebene der Nachbarschaften bildete sich in Nordwestbünden in vormoderner Zeit merklich schwächer aus. Man delegierte das Zivilgericht nicht an die Nachbarschaften, auch die grosse Landsgemeinde blieb erhalten. Die Vertreter der Gerichtsgemeinden wurden weiterhin an den grossen Talversammlungen gewählt, nicht in den einzelnen Nachbarschaften.54

      Innerhalb der Nachbarschaften wurden die Gemeindeordnungen ausgebaut. Die Stadt Chur hatte bereits seit 1465 eine Zunftordnung. Die Nachbarschaften arbeiteten zudem Bussenkataloge aus und erfanden immer neue Gemeindeämter, die von Alpmeister über Wahlmänner bis zum Marksteinsetzer und Hilfsflurhüter reichen konnten. Die Unterengadiner Nachbarschaft Ftan kannte so 1773 insgesamt 25 Amtsinhaber auf ungefähr 100 politisch berechtigte Männer.55 Diese Inflation von Titeln und Titelträgern auf der Ebene der Nachbarschaft ist nur ein Beispiel einer vermehrten öffentlichen Betonung von Statusunterschieden.56 Da sich die Nachbarschaften für die kommunalen Rechte und Pflichten wie politische Partizipation, Nutzung von Holz und Gemeindeland, Gemeinwerk oder Militärdienst auf den Haushalt stützten, wuchs die Autorität des Haushaltsvorstands. Es galt das Senioritätsprinzip, das zwischen privilegierten Alten und untergeordneten Jungen unterschied.57

      Mit dem Ausbau und der Abgrenzung der Nachbarschaften bildeten sich also auch gesellschaftliche Kontrollen und Hierarchien stärker aus.58 Diese verstärkten Hierarchisierungen und Reglementierungen blieben im 17. und 18. Jahrhundert nicht ohne Wirkung auf die rechtliche Exklusion der Hintersassen.59 Das Senioritätsprinzip wies auf Gemeindeebene auch den später gekommenen «Fremden» einen sekundären Platz zu.60 Ihre amtliche Erfassung und Kontrolle war wahrscheinlich in der Stadt Chur am markantesten ausgeprägt, wo man durch Quartiereinteilungen, besondere Reglemente und Kontrollpersonal versuchte, der steigenden Anzahl Herr zu werden.61 Versucht man die Exklusion der Hintersassen in den einzelnen Nachbarschaften zu vergleichen, stösst man innerhalb des rätoromanischen Sprachgebiets auf eine deutliche Tendenz: Rechte und Pflichten wurden in jenen reformierten Gebieten reglementiert, in denen sich auch auf dem Gebiet der Zivilgerichtsbarkeit ein nachbarschaftlicher Partikularismus ausbildete. Das Dicziunari Rumantsch Grischun führt für die Zeit vor 1800 insgesamt 64 Beispiele reglementierender Vorschriften für die Hintersassen auf. Davon stammen 53 aus dem Engadin (ohne das katholische Tarasp), sieben aus dem angrenzenden, reformierten Teil des Albulatals und der reformierten Val Müstair und lediglich vier aus dem restlichen, vorwiegend katholisch-rätoromanischen Sprachgebiet: drei aus dem reformierten Sevgein (mittlere Surselva) und ein Beispiel aus dem reformierten Schamsertal.62 Putzi bringt in seiner Monografie zur Entwicklung des Bürgerrechts zur Annahme und zur Rechtsstellung der Hintersassen Beispiele aus 20 verschiedenen Nachbarschaften und Gerichtsgemeinden, darunter fünf aus dem Churer Rheintal, fünf aus dem Prättigau, drei aus der mittleren und unteren Surselva (davon zwei reformierte Nachbarschaften), drei aus dem unteren Albulatal, zwei aus dem Engadin und zwei aus dem Surses.63

      Gewiss ist es prekär, aufgrund dieser Quellenlage allzu weitreichende Schlussfolgerungen ziehen zu wollen, zumal für zahlreiche Regionen nicht bekannt ist, ob das Fehlen von Reglementierungen schlicht die Folge eines verschwindend kleinen Anteils an Hintersassen war – wenn auch die geringen Hintersassen-Anteile im Unterengadin einer solchen Logik bereits widersprechen würden.64 Immerhin kann man auf eine deutliche Tendenz hinweisen: Das reformiert-rätoromanische Engadin zeichnet sich im Vergleich zum katholisch-rätoromanischen Teil der oberen und mittleren Surselva und dem katholisch-rätoromanischen Teil Mittelbündens ab dem 16. Jahrhundert ganz allgemein durch eine Vielzahl von Statuten und Urkunden aus, die in der katholischen Surselva noch im 17. Jahrhundert praktisch völlig gefehlt haben.65 Dieser Befund korreliert mit dem nachbarschaftlichen Partikularismus, bei dem Aufgaben von den Gerichtsgemeinden an die Nachbarschaften übertragen wurden. Dieser Zusammenhang gilt ebenso für das Prättigau: Partikularismus, Reglementierung und die damit einhergehende Exklusion der Hintersassen bildeten in den reformierten Gebieten einen Nexus, der sich in den katholischen Regionen nicht feststellen lässt.66

      Die meisten dieser Reglementierungen schrieben Restriktionen oder Bürgschaften67 vor. Strikt den Nachbarn vorbehalten waren aber wohl nur die später sogenannten Bürgerlöser; prinzipiell konnten die Hintersassen Wald, Weiden und Alpen mitnutzen. In S-chanf und Bergün/Bravuogn beispielsweise mussten sie dafür im 18. Jahrhundert ausser der Niederlassungssteuer eine Weidetaxe entrichten.68 Solche Niederlassungssteuern und Nutzungstaxen trifft man häufig an.69 Hinzu kamen andere, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft verschiedene Bestimmungen, die den korporativen Charakter der lokalen Wirtschaftsorganisation deutlich machen. Im Oberengadiner Dorf Madulain findet sich für 1772 die Vorschrift, dass die Hintersassen den kalten Backofen aufheizen mussten,70 in St. Moritz (1692) durften sie ohne Erlaubnis der Nachbarn weder Wirten noch mit Wein, Schnaps und Tabak handeln, in Ardez (1752) war ihnen der Ausschank von Wein und Schnaps kategorisch verboten.71 Diese Ausschluss- und Einschlussmechanismen waren der Churer Zunftordnung ähnlich, die den Hintersassen Handwerks- und Gewerbebeschränkungen auferlegte und ihren Anteil an Wald, Weiden und Alpen beschränkte.72

      Als schliesslich Nachbarschaften und Gerichtsgemeinden aller drei Bünde im 17. und 18. Jahrhundert dazu übergingen, gar keine Hintersassen als voll partizipationsberechtigte Nachbarn und Gemeindegenossen mehr aufzunehmen, spielten interne Hierarchisierungsmechanismen auf höherer Stufe eine Rolle: Oft wurden diese Verbote von der einheimischen Führungsschicht veranlasst, um auswärtigen Aristokratenfamilien eine mögliche Wahl in die hohen Ämter der Untertanenlande zu verunmöglichen.73 Der strikte Abschluss der Partizipationsberechtigten im Innern dürfte damit – auch wegen der stagnierenden Bevölkerungszahl – weniger auf akute wirtschaftliche Gründe zurückzuführen gewesen sein.

      Kommunalismus und Altrepublikanismus

      Wie lassen sich nun die frühmodemen Nachbarschaften als Teil einer altrepublikanischen Organisationsform beschreiben? Der klassische Republikanismus umreisst den Staat seit Aristoteles als Ideal einer sich selbst regierenden Gemeinschaft wirtschaftlich unabhängiger und wehrhafter «Bürger».74 Der Staat ist in dieser seit der Renaissance weiterentwickelten Theorie ein freiwilliger und willentlicher Zusammenschluss von Menschen, in denen die Gesetze den Willen der Gesamtheit ausdrücken (Rousseaus volonté générale) und gleichzeitig auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind.75 Altrepublikanisch an der Bündner «Gemeinderepublik» (Jon Mathieu) ist für Blickle, «dass die Gesetze von Bürgern im staatsrechtlichen Sinne gemacht werden, gleichgültig, ob sie Städter oder Bauern sind und die Zwecksetzung des politischen Verbandes wegen der Rechtsgleichheit der Bürger auf gar nichts anderes als das Gemeinwohl gerichtet sein kann».76

      Ich will hier nicht auf die im Freistaat verhandelte Deutung des mit dem Republik-Begriff verbundenen Gemeindesouveränitätskonzepts eingehen.77 Viel wichtiger scheint mir festzustellen, dass von einer altrepublikanischen Staatsform im Freistaat der Drei Bünde nur unter der Voraussetzung der kommunalistischen Bewegung gesprochen werden kann.78 Der Kommunalismus begründete die Vorstellung souveräner Gemeinden, die zur heute immer noch bestehenden Gemeindeautonomie führte.79 Aus diesem Grund gilt der Kanton Graubünden seit der Kantonsverfassung von 1854 mit seiner Kombination aus freistaatlichem und modernem Recht (siehe Kapitel 2.3) als «atypischer Bundesstaat mit Gemeindestaatlichkeit».80 Kommunalismus beziehungsweise