«mit dem Ausbau der Volksrechte und schliesslich mit der Verfassungsrevision von 1874 das politische System in verschiedenen Kantonen und im Bund»41 noch weiter öffnen.
Graubünden gilt in der Schweizer Geschichtsforschung gemeinhin nicht als Kanton, der von der Demokratischen Bewegung erfasst wurde.42 Dass dem doch so ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass vor allem die katholische Surselva ab Mitte der 1860er-Jahre versucht hat, sich direktdemokratische Partizipationsmittel für ihre antimoderne Politik zunutze zu machen, wie Ivo Berther gezeigt hat.43 Daneben gab es eine Reihe mehr oder minder liberaler Versuche, die rechtliche Stellung der Niedergelassenen zu verbessern. Die Impulse dazu kamen aus Chur und betrafen meist die Kantonshauptstadt, wobei der Problemdruck wiederum kaum mit der Entwicklung des Anteils Niedergelassener in Verbindung gebracht werden kann. Deren Quote war im Vergleich mit 1806 nur unwesentlich von 65 auf 73 Prozent gestiegen.44
1860 reichte der in Chur niedergelassene Anwalt Julius [Geli] Caduff aus Schluein (Surselva) mit 44 namentlich benannten «Angehörigen» und 31 weiteren Unterzeichnern eine Petition an den Bundesrat ein. Darin wurde das Begehren gestellt, das eidgenössische Heimatlosengesetz von 1850 so abzuändern, dass die Angehörigen einer Gemeinde in der Nutzung des Gemeindevermögens den Gemeindebürgern gleichgestellt seien, sowohl in Bezug auf das Nutzungsvermögen als auch auf die Bürgerlöser.45 Angehörige waren aufgrund des Heimatlosengesetzes aufgenommene Heimatlose,46 die gegenüber Niedergelassenen einige Rechtsprivilegien, aber ebenso wenig kommunale Stimmrechte noch Anspruch auf das Gemeindevermögen hatten.47 Die Träger dieser Petition entsprachen dem Muster der Demokratischen Bewegung in anderen Kantonen: Während die programmatische und organisatorische Führung bei den Bildungsbürgern lag, bestand die Bewegung aus Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern. Im Churer Fall finden sich die Berufsbezeichnungen Schuster, Holzhacker, Zimmermann, Buchdrucker oder Hafner.48
Vier Jahre nachdem dieser Petition nicht entspro – chen worden war, liess Julius Caduff in der Churer Schnellpresse von Senti & Hummel das 68-seitige Büchlein Die Einwohner-Gemeinde drucken, in dem er für die politische Notwendigkeit der Bildung von Politischen Gemeinden argumentierte.49 Im folgenden Jahr reichten 18 Niedergelassene der Stadt Chur ein erfolgloses Bittgesuch an die Schweizerische Bundesversammlung, in dem sie forderten, dass das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten zum Bundesgesetz gemacht werde.50 Nur ein weiteres Jahr später sah sich der Stadtrat selbst zum Handeln veranlasst. Erneut tauchte Peter Conradin von Planta als Akteur im Umfeld dieser Fragen auf. Inzwischen war von Planta Churer Stadtrat, und ihm fiel die Aufgabe zu, eine neue Stadtverfassung zu entwerfen.51 Gemäss seinem Vorschlag sollten die Niedergelassenen eine Minderheit im Kleinen und Grossen Stadtrat stellen dürfen, sodass diese wachsende Gruppe in der verschuldeten Stadt mit verhältnismässig hohen Steuern52 ein gewisses Mitspracherecht erhalten hätte.53 Die Vorlage scheiterte genau wie eine weitere im Jahre 1867, und das Projekt einer Einwohnergemeinde im Februar 1868.54
Da es nicht gelang, einer neuen Norm via Verfassung zur Stabilität zu verhelfen, versuchte die Stadtverwaltung nun, mittels Einbezug von Vorschlägen der Gemeindebürger, einen Konsens zu erreichen. Auf den Aufruf des Stadtrats vom 2. Mai 1868 im städtischen Amtsblatt reichten der Anfang 1868 neu gegründete Bürgerverein, der Kleine Bürgerverein, der Reformverein,55 der Arzt Thomas Gamser und Stadtpfarrer Christian Kind ihre Vorschläge ein. Während dem späteren Churer Bürgermeister Gamser, dem Reformverein und dem Kleinen Bürgerverein eine Politische Gemeinde mit überwiegender Vertretung durch die Gemeindebürger und Ausscheidung des Nutzungsvermögens vorschwebte, sprach sich der Bürgerverein gegen eine Politische Gemeinde und lediglich für die Herabsetzung der Einbürgerungstaxen aus.56 Auf Grund der Vorschläge unterbreitete der Stadtrat knapp zwei Jahre später eine Vorlage für den erleichterten Bürgereinkauf zur Abstimmung. Der Erfolg dieses angenommenen Gesetzes war bescheiden, der längerfristige Zuwachs der Bürgerquote betrug nur 3,5 Prozent.57 Gleichzeitig nahm sich der in Chur erscheinende Bündner Kalender der Frage an und forderte, den Niedergelassenen sei gleich den Gemeindebürgern gegen Entgelt die Nutzung des Gemeindevermögens zu ermöglichen.58
Einige der eben summarisch beschriebenen Versuche, die rechtliche Stellung der Niedergelassenen in den Gemeinden zu verbessern, fallen nun besonders ins Auge. Wesentlich scheinen mir vor allem Julius Caduffs gedruckte Abhandlung von 1864, das Bittgesuch an die Schweizer Bundesversammlung von 1865, einige Zeitungsartikel von 1866 und 1868 und die gedruckte Broschüre mit den Vorschlägen der beiden Bürgervereine, des Reformvereins und von Stadtpfarrer Kind und dem Arzt Thomas Gamser.59 Mehr noch als in der Grossratsdebatte um das Niederlassungsgesetz von 1853 wird in diesem Spannungsfeld deutlich, dass die Frage der Exklusion oder Inklusion der Nichtpartizipationsberechtigten zur Frage um bürgerliche Werte schlechthin wurde. Gewisse bürgerliche Werte wurden zugunsten der Niedergelassenen oder der Gemeindebürger in Stellung gebracht, um die Stadt Chur hin zu einer liberal-universalistischen, bürgerlichen Gesellschaft zu öffnen oder den Status quo einer altrepublikanisch geprägten bürgerlichen Gesellschaft zu rechtfertigen – die man treffender vielleicht als Bürgergesellschaft bezeichnen müsste.60 Die Konstruktion dessen, was zum «bürgerlichen Wertehimmel» gehörte, war damit ein wesentliches Produkt des Diskurses, mit dem für oder gegen die Gleichstellung der Niedergelassenen gerungen wurde. Bürgerliche Werte konnten den Gemeindebürgern dabei durchaus streitig gemacht werden.
Im Folgenden möchte ich das an einem Zeitungsstreit vertiefen, ohne den Seitenblick auf die anderen Quellen zu verlieren. Der Konflikt entbrannte zwischen Peter Jakob Bauer und dem neu gegründeten Bürgerverein, nachdem das erwähnte Projekt einer Einwohnergemeinde im Februar 1868 von den Churer Gemeindebürgern verworfen worden war. Der Churer Ratssuppleant Peter Jakob Bauer61 sandte im März in sechs Folgen Betrachtungen und Ansichten über die Churer Gemeindwirren an die Bündnerische Volks-Zeitung ein. Er kritisierte, «einzelne Schichten bürgerlicher Bevölkerung» würden sich «in städtischer Politik sehr mangelhaft oder gar nicht orientiren». Im Vorfeld der Abstimmung vom Februar 1868 habe im Bürgerverein eine «gründliche Agitation» seitens der Gegner einer künftigen politischen Gemeinde stattgefunden, sodass «von Bildung einer selbständigen objektiven Ansicht nicht die Rede sein» könne.62 Eine liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft scheiterte in Chur gemäss Bauer einerseits am Bürgerverein, der als politisches Forum nicht demokratisch, sondern immer noch vormodern-oligarchisch funktionierte. Gravierend war für Bauer andererseits die Tatsache, dass die Churer Bürgerschaft aus zu vielen pedantischen Spiessbürgern bestand, die sich nur dann für städtische Politik interessierten, wenn es sich «um Loosholz, Gemeingüter oder Alpen»63 handelte.
Gemäss Peter Jakob Bauer blockierten diese Defizite die Überwindung altrepublikanischer Partizipationsstrukturen. Ein weiterer Missstand war für ihn, dass verfassungsmässig korrekt in Chur oft nur 100 bis 120 Gemeindebürger für das absolute Mehr bei Abstimmungen und noch weniger bei Wahlen genügten, um «über 7000 Seelen regieren» zu können. Dies stelle «widersinnige, nicht sonderlich republikanische Zustände» dar.64 Er forderte ein aufgeklärt-republikanisches Denken, wie es Napoleon im Nachgang der Französischen Revolution in die Helvetische Republik exportiert hatte: Dieses ruhte nicht auf abgeschlossenen kommunalen Korporationen, sondern auf einer viel universalistischeren bürgerlichen Gesellschaft. Gemäss Bauer wäre ein liberales Republikanismuskonzept ein Entwurf «im Sinne des Friedens und der billigen Berücksichtigung gerechter Wünsche der Niedergelassenen»65 gewesen.
Bauers publizistischer Angriff rief einen (wie es kurze Zeit später in der gleichen Zeitung hiess) «berühmt gewordenen Artikel» des Bürgervereins hervor, hinter dem sich M.[atheus] Risch, [Ratsherr Heinrich] Honegger, [Ratsherr Luzius] Simmen und A.[nton] Lendi verbargen.66 In ihrer Replik in der Bündnerischen Volks-Zeitung nahmen sie zunächst eine «persönliche […] Abfertigung»67 Bauers vor, bei der sie deutlich machten, dass er mit seinem Angriff die Grenzen des Sagbaren überschritten hatte. Es sei «einfach nicht wahr», dass man «nur prädisponierte und unsichere Leute» eingeladen habe, und «sodann hinter verschlossenen Thüren mit allen Mitteln einer schlauen Beredtsamkeit auf dieselben eingewirkt» habe,68 wie Bauer behaupte. Damit verteidigten sie die Fähigkeit der Churer zur selbstständigen Meinungsbildung, war doch