Simon Bundi

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer


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Simmen und Lendi bekräftigten auch, dass sie nicht am «Bürgerprinzip» festhielten, weil die Gemeindebürger ⅗ der Churer Steuern zahlten.70 Sie wehrten sich dagegen, die angegriffene Versammlung des Bürgervereins pauschal als «‹Zopf- und Philistertum›» bezeichnen zu lassen.71 Diese Begriffe tauchten inklusive dem des «Spiessbürgers» in Graubünden im Kontext des rechtlichen Verhältnisses von Gemeindebürgern und Niedergelassenen immer wieder zur Bezeichnung nur auf ihren «Eigensinn» fixierter Gemeindebürger auf.72 Spiessbürger waren, um mit dem Konservativen (!) Wilhelm Heinrich Riehl zu sprechen, «soziale Philister». Als solche hielten sie ängstlich am Überkommenen und am eigenen Reichtum fest, statt zu versuchen, im Sinne der «Bürger von guter Art» (Riehl) Neues zu schaffen.73 «‹Zöpfe, engherzige Philister, Krautbürger›» waren auch für die Mitglieder des Churer Bürgervereins abwertende Bezeichnungen für ängstliche, nur auf die Sicherung ihres eigenen finanziellen Vorteils bedachte Gemeindebürger, denen jeglicher «Bürgersinn» abging.74 Das zeitgenössische Pendant zum «Bürgersinn», das auch in der Bündnerischen Volks-Zeitung auftauchte, war der «Eigensinn», das eigennützige, am egoistischen Eigeninteresse orientierte Handeln.75 Ein zu hohes Mass an «Eigensinn», so stellt auch Manfred Hettling in seiner Analyse kultureller Normen des bürgerlichen Basels am Ende des 18. Jahrhunderts fest, «disqualifiziert den einzelnen geradezu, verhindert sein ‹Bürger-Sein›».76 Deshalb argumentierten die Mitglieder des Bürgervereins, ihnen gehe es vielmehr um «ideelle Motive». Diese liessen sich nicht «nach dem Franken und Rappen berechnen».77 Nur der Verband der Gemeindebürger sei nämlich «eine Quelle der Heimatliebe, der Hingebung und selbstbewussten Bürgersinns», was der blosse Wohnsitz nicht zu leisten vermöge, wie der Bürgerverein rund zwei Monate später in seinem Reformvorschlag an den Stadtrat präzisierte.78

      Dass diese Bürgergesellschaft nicht auf egoistischen «Eigensinn» reduziert werden konnte, sollte mit dem Vorschlag des Bürgervereins für eine «liberale […] Eröffnung» des Bürgerrechts untermauert werden. So trete «die republikanische Tugend der Billigkeit ins Mittel, gibt nach, wo sie eigentlich nicht nachzugeben braucht, opfert von dem, was ihr von Rechtswegen gehört79 und führt dadurch das schwankende Schifflein des Gemeinwesens wieder in sichern Port».80 Dass sie auch an die eigenen Interessen dachten, gaben Risch, Honegger, Simmen und Lendi natürlich zu. Einen massvollen Eigennutz machten sie genauso als bürgerlichen Wert stark, wobei ein gewisser, massvoller «Eigensinn», das heisst, so Manfred Hettling, «das Recht auf Eigentum und damit auch dessen Mehrung», als Gegensatz zum «Bürgersinn» durchaus Teil des «bürgerlichen Wertehimmels» war. Letztlich war es die «erstrebte Kombination dieser Eigenschaften», die das bürgerliche Ideal ausmachte.81 Deshalb könne es, so meinten die Vertreter des Bürgervereins, «nicht so weit gehen, dass man, um einem Anderen gerecht zu werden, sich selbst aufgibt; selbst der Schutzpatron Chur’s, der hl. Martin, der doch ein Heiliger war, hat nur die eine Hälfte seines Mantels weggegeben.»82 Das altrepublikanische Paradigma der korporativen Selbstverwaltung der Gemeinde wurde damit in den bürgerlichen «Wertehimmel» integriert, der mitnichten rückständig oder spiessig war, sondern den eigenen Besitz aus idealistischen Motiven sicherte.

      Neben den vorgebrachten bürgerlichen Werten schien am Rande das Geschichtsbild der altrepublikanisch organisierten Korporation – im Falle Churs zielte das auf die Zünfte – als Garantin fundamentaler Werte auf. Der bürgerliche Sinn für das Gemeinwohl fusste danach auf einer Mischung von ahistorischen bürgerlichen Werten und historischer Leistung. Es brauche nämlich einen «feste[n] Kern», dem «Natur, Verfassung und Geschichte» die Lenkung der Gemeinde zusprechen würden.83 Dies war der «Kern von Menschen, der durch die Bande der Pietät und des dauernden Interesses» an das Gemeinwesen gebunden war.84 Solche antimodernen Positionen waren durchaus typisch für das Bürgertum, denn «seit der Romantik waren immer auch Bürger die schärfsten Kritiker der eigenen Ausgestaltung von Bürgerlichkeit».85 Das staatsrechtliche Projekt einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft zerstöre die bewährten Traditionen,86 lautete die Kritik der konservativen Bürgerlichen am Projekt der liberalen Bürgerlichen. Bereits im 18. Jahrhundert setzte die Romantik den Organismus dem mechanischen, rationalen Denken der Aufklärung gegenüber: «Natur, Staat und Gesellschaft bilden danach einen gewachsenen Körper, der sich nicht ungestraft in seine Bestandteile zerlegen lässt.»87 Diese Art der Verhaftung mit der Vormoderne, die darin nicht nur Gemeinsamkeit stiftende, abstrakte Tugenden und Helden sah, sondern konkrete, erhaltenswerte politische Institutionen, war in ihrem konservativen Gestus etwas dezidiert anderes als die Erinnerungsfeiern und der Historismus der freisinnigen Schweiz.88 Diese Kritik an der liberalen Moderne sollte in Graubünden, getragen von einer liberalen Rechten, aufseiten der Gemeindebürger in späteren Jahrzehnten noch um einiges elaborierter ausfallen – und sich gleichzeitig von der Formulierung bürgerlicher Werte entfernen.

      Damit zurück zur Churer Debatte der 1860er-Jahre: Über den (gescheiterten) ersten Versuch der Einrichtung einer politischen Gemeinde in Chur 1866 schrieb die Bündnerische Volks-Zeitung höhnisch, der Stadtrat hätte sich «etwas weniger mit dem souveränen Bürgermantel drapiren» sollen, wenn er einen «Beweis von Bürgertugenden» hätte geben wollen, stattdessen sei ein «Gebräu von zwei Drittheil Bürgerlich-konservativer Engherzigkeit und einem Drittel [sic!] verdünntem Liberalismus» vorgelegt worden.89 Damit wird noch einmal deutlich, wie stark in den 1860er-Jahren Vorstellungen über die Ausgestaltung der modernen, kommunalen Staatsbürgergesellschaft mit Werten vermischt wurden, die man als «bürgerliche» erkannte. Tugendhaftes Verhalten zeichnete sich nach dieser Deutung durch «Bürgersinn» aus, dadurch also, dass man möglichst vielen stimmberechtigten Männern die Möglichkeit zur Partizipation am Gemeindeleben gab. Genau daran mangelte es gemäss dem Churer Bittgesuch von 1865 an die Schweizer Bundesversammlung, worin 18 in Chur niedergelassene Schweizer das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten forderten. In ihrer Argumentation nahm der den Gemeindebürgern vorgeworfene «Eigensinn» tyrannische Züge an. In Graubünden betrachte man es, so schrieben die Petenten, «als historisches Recht und als gute Sitte, über die Niedergelassenen wie gewissermassen über eine rechtlose Menschenklasse zu herrschen und dieselbe finanziell auszunutzen».90

      Auch Julius Caduff argumentierte mit Werten des «bürgerlichen Wertehimmels». Sein Büchlein von 1864 über die Einwohner-Gemeinde zeigt, dass es in der Auseinandersetzung um die kommunalen Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen darum ging, allgemeinere Ideale wie egoistischen «Eigensinn» und gemeinwohlorientierten «Bürgersinn» den beiden sozialen Gruppen oder ihren Akteuren zuzuschreiben. Dem Argument der Gegner der politischen Gemeinde, wonach den Niedergelassenen jede Bürgertugend im Sinne von Gemeinwohlorientierung abgehe, hielt Caduff entgegen: Wenn die Bürgertugenden so sehr auf die Interessen der eigenen Gemeinde reduziert wären, dass sie schon im Nachbardorf inexistent wären, «dann wäre es wahrlich nur gut, wenn ein solches Spiessbürger- und Zopfthum sobald wie möglich ein Ende nähme!».91 Gemeinwohl wurde als etwas verstanden, was über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinausgehen sollte. Caduff favorisierte eine liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft, weil es ein «jedem Menschen innewohnende[s] Gefühl von Gerechtigkeit und Gleichheit»92 gebe. Diese liberale bürgerliche Gesellschaft ging nicht von einer am Gemeinderecht orientierten Korporation aus, sondern vom Individuum.

      Eine bürgerliche politische Kultur in Chur

      Einen unmittelbaren Effekt auf den Status quo in der Stadt Chur hatte der Widerstreit bürgerlicher Werte nicht. In der Debatte um die Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen der 1860er-Jahre war hingegen eine politische Kultur miterzeugt worden, die typische Merkmale von Bürgerlichkeit aufweist. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Haltung konstituierten die widerstreitenden Positionen eine genuin bürgerliche politische Kultur, die sich von einer Arbeiter- oder Bauernkultur unterschied. Dazu gehörte die «Orientierung am Ideal»93 des «bürgerlichen Wertehimmels» mit seinen abstrakten, inhaltlich offenen Prinzipien wie etwa dem «Bürgersinn», den man der Spiessbürgerlichkeit vorzog.

      Darüber hinaus war die Möglichkeit, sich individuell oder im freien Zusammenschluss mit Gleichgesinnten politisch zu engagieren, eine wesentliche Strukturvoraussetzung