Simon Bundi

Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer


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März 1853 in Kraft getretene Niederlassungsgesetz folgte einer engen Interpretation der Bundesverfassung von 1848, obwohl von liberaler Seite im Grossen Rat darauf hingewiesen worden war, «dass die Bundesverfassung nur das Minimum der Rechte der Niedergelassenen festsetze».15 Zwar bestätigte es den Niedergelassenen volle politische Rechte auf kantonaler und eidgenössischer Ebene, verbot ihnen aber nicht nur wie schon die Kantonsverfassung von 181416 jedes Stimm- und Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten, sondern in Anschluss an Artikel 41 der Bundesverfassung auch jede Mitnutzung des kommunalen Nutzungsvermögens, also der Allmenden, Wälder und Alpen.17 Einzig im Kirchen- und Schulwesen waren den Niedergelassenen bestimmte Rechte zugesichert.18

      Die Tatsache, dass im kantonalen Durchschnitt rund 25 Prozent19 der Schweizer oder Bündner offiziell von den ökonomischen und politischen Einrichtungen der Gemeinden ausgeschlossen waren, wurde offensichtlich nicht als Problemdruck empfunden. Dabei gab es zahlreiche Gemeinden, die wie die Stadt Chur (73 Prozent Nichtgemeindebürger im Jahr 1860)20 einen noch viel grösseren Anteil an Niedergelassenen aufwiesen. Die Gemeinde Igis mit dem wirtschaftlich aufstrebenden Landquart21 beispielsweise hatte zwei Jahre nach Eröffnung der Bahnlinie Rorschach-Chur bereits 43 Prozent Niedergelassene,22 Roveredo und Leggia im Misox als Durchgangsorte des noch florierenden Transitverkehrs23 46 und 45 Prozent.24

      Trotzdem konnte sich das neue Niederlassungsgesetz in den ersten Jahren nach 1853 auf kantonaler Ebene als stabiles, allgemeingültiges Prinzip halten. Auffällig ist, dass in der Presse bis 1860 die Niedergelassenen nicht als Gegenstand fassbar werden: In der katholisch-konservativen Nova Gasetta Romonscha wurde zur Jahreswende 1859/60 über eine Reform des Gemeindegütergenusses diskutiert. Von einer Kategorie von Niedergelassenen wussten diese Artikel nichts zu berichten, lediglich das Verhältnis zwischen armen und reichen Gemeindebürgern stand zur Debatte.25 Könnte man das noch damit erklären, dass der Anteil Niedergelassener in der oberen Surselva 1870 bei 8,2 Prozent lag,26 greift diese Erklärung für die Kantonshauptstadt nicht. Eine Artikelserie im Churer Liberalen Alpenboten27 forderte mehr «Regulierung und Begrenzung der Gemeindefreiheit»,28 doch über das Verhältnis von Gemeindebürgern und Niedergelassenen schwieg sie sich aus. Im Engadin, wo sich die Bevölkerung durchschnittlich noch aus 53 Prozent Gemeindebürgern zusammensetzte,29 referierte das Blatt L’Utschella 1868 in acht Artikeln über Gemeindeverfassungen und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft, ohne dass von jenen die Rede war, die davon ausgeschlossen waren.30

      Ein Grund für diese Nichtthematisierung dürfte sein, dass in der praktischen Umsetzung des Niederlassungsgesetzes die Gemeindeautonomie tatsächlich zu einer liberaleren Praxis führte, als es das kantonale Gesetz vorgab. Schon Mitte der 1850er-Jahre waren in mehreren Gemeinden des Oberengadins aus Mangel an Gemeindebürgern niedergelassene Schweizerbürger zur Ämterbesetzung zugelassen.31 Die Zahlen der eidgenössischen Volkszählung lassen dies plausibel erscheinen: Während die Gemeindebürgerquote im Unterengadin mit 77 Prozent zu dieser Zeit noch hoch war, betrug die Quote im Oberengadin gemäss eidgenössischer Volkszählung von 1860 nur noch 28 Prozent.32 Ausserdem gab es Gemeinden wie Arosa oder Ramosch, die ihren Niedergelassenen das Stimmrecht in Angelegenheiten gewährten, die nicht als rein ortsbürgerliche Kompetenzen angesehen wurden.33 Gemäss einem Bericht des Kleinen Rates von 1868 hatten Niedergelassene in verschiedenen Gemeinden des Kantons Anrecht auf Brennholz. Vier Oberengadiner, aber auch die drei Unterengadiner Gemeinden Guarda, Ramosch und Tschlin gewährten ihren Niedergelassenen sogar Nutzungsrechte an den Gemeindealpen.34

      Als Gegenstand von Rekursen wird das 1853 neu etablierte Verhältnis von Niedergelassenen und Gemeindebürgern bis 1860 ebensowenig erkennbar.35 Wenn überhaupt, wurde die Gemeindeautonomie in dieser Frage nur am Rande des politischen Diskurses kritisch beleuchtet, obwohl sich die kantonalen Organe in diesen Jahren durchaus mit der Frage beschäftigten, wie die Gemeinden ausgestaltet werden sollten. Das Gebietseinteilungsgesetz von 1851 und die neue Kantonsverfassung wiesen ja in der Frage der Gemeindeorganisation Lücken auf, und um diese zu schliessen, liess der Kleine Rat für 1854 ein Gemeindegesetz vorbereiten. Diese Aufgabe übernahm der Mitbegründer des liberalen Reformvereins von 1842, Peter Conradin von Planta. In seinem Commissionalbericht über den Vorschlag zu einer Gemeinde-Ordnung, welcher der Vorbereitung dieses 1854 an der Urne gescheiterten Gemeindegesetzes diente, taucht die Frage des problematischen Rechtsverhältnisses zwischen Niedergelassenen und Gemeindebürgern nur am Horizont als Ausblick auf.36

      Insgesamt zeigt diese kurze Übersicht, dass einzelne Gemeinden durch eine liberale Handhabung des Gesetzes den Problemdruck punktuell minderten. Davon abgesehen lässt sich die Akzeptanz oder Aneignung des Niederlassungsgesetzes von 1853 aber nicht mit messbaren Gemeindebürgerquoten erklären. Genauso wenig, wie relativ niedrige Bürgerquoten wie zum Beispiel in Chur bis um 1860 Widerstand gegen das Niederlassungsgesetz hervorriefen, wurde die konservative Gesetzesnorm nur dort gelockert, wo beispielsweise zu wenig Gemeindebürger für die Besetzung der Gemeindeämter vorhanden waren.

      Während dieses Niederlassungsgesetz den Status quo nicht veränderte, gab es durchaus Gemeinden, die eine liberale Praxis walten liessen. In der Kantonshauptstadt hingegen wurde der Ausschluss der Niedergelassenen erst im Zuge der in weiten Teilen der Schweiz in den 1860er-Jahren entstehenden sogenannten Demokratischen Bewegung in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Auf der lokalen, nebenstaatlichen Bühne Churs, wo neben dem Churer «Bürger-Verein» einzelne Vorkämpfer und andere Vereine oder lose Gruppen auftraten, erhielt das bereits 1853 formulierte Argumentarium für oder gegen die Kontinuität der altrepublikanischen Partizipationsprinzipien auf beiden Seiten ganz explizit die Qualität bürgerlicher Werte. Der Anspruch, über bürgerliche Qualitäten zu verfügen, bildete in dieser Phase vielfach den Brennstoff der Diskussion. Die sich teilweise widerstrebenden Eigenschaften des «bürgerlichen Wertehimmels» – darunter die freie Meinungsbildung des Einzelnen oder das uneigennützige Engagement für das Gemeinwohl bei gleichzeitiger Sicherung des Eigennutzens – reklamierten die Akteure beider Seiten für sich und sprachen sie in teils polemischen Angriffen der Gegenseite ab.

      3.2 Churer Spiessbürger in Bedrängnis

      Die Stadt Chur gehört zweifellos zu den ersten Orten im modernen Kanton Graubünden, an denen das Rechtsverhältnis zwischen Nachbarn und Hintersassen zu Konflikten führte. Chur zählte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast zwei Drittel Niedergelassene unter der Bevölkerung.37 Als Konsumenten, Wächter, Tagelöhner und schliesslich – bis zur Gewerbefreiheit von 1804 jedoch nur mit Bewilligung – als Handwerker waren sie seit Langem für die Stadt eminent wichtig. Bereits 70 Jahre vor dem Versuch des Kantons, das altrepublikanisch organisierte Rechtsverhältnis in den Gemeinden zu brechen, lassen sich 1804 erste Umrisse eines Aufbegehrens in der Beschwerde von Toggenburger und Saaser Schreinern und von einigen niedergelassenen Metzgern fassen. Der Stadtrat hatte Werkzeuge konfiszieren lassen, während den Metzgern von einigen Churer Gemeindebürgern der Laden aufgebrochen wurde. Die Geschädigten forderten beim kantonalen Grossen Rat die Respektierung der neuen Gewerbefreiheit seitens der Gemeindebürger und erhielten Recht.38 Als 1839 mit der Churer Zunftverfassung die letzte ihrer Art in der Schweiz abgeschafft worden war, blieben nur die Gemeindebürger in kommunalen wie kantonalen Angelegenheiten stimmberechtigt.39 Auch wenn diese Reform den Ausschluss der Niedergelassenen aus allen politischen Angelegenheiten Churs gar nicht infrage gestellt hatte, war die korporative Struktur der Stadt nach Abschaffung der Zunftverfassung in ihren Grundfesten erschüttert.

      Im Folgenden möchte ich zeigen, dass eine intensive öffentliche Auseinandersetzung um das rechtliche Verhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Gemeindeangelegenheiten erst in den 1860er-Jahren einsetzte. Die neue Entwicklung korrelierte mit der Demokratischen Bewegung, wie sie in zahlreichen Schweizer Kantonen zu dieser Zeit verstärkt fassbar wird. Erstmals tauchte der Begriff der Demokratischen Bewegung 1854 im Kanton Zürich auf, in den 1860er-Jahren erfasste diese Strömung unter anderem die Kantone Genf, Waadt, Basel-Land, Bern, Luzern, Aargau, Schaffhausen oder Thurgau. Der Forderungskatalog der Demokratischen Bewegung war gross und enthielt neben ökonomischen und sozialen Postulaten im engeren Sinn politische Forderungen wie direktdemokratische