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Praktische Theologie in der Spätmoderne


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      Ein konstruktivistisches Wissensverständnis macht darauf aufmerksam, dass die Vorstellung eines endgültig gesicherten Wissens illusionär ist. Zwar kreieren Wissenschaften durchaus immer mehr und immer neues vorläufig gesichertes Wissen, aber letztlich vervielfältigen sie damit zugleich die Perspektiven, unter denen die Welt betrachtet werden kann. Jede neue Erkenntnis führt zu einer Reihe neuer offener Fragen, und damit wächst mit der Vervielfältigung wissenschaftlichen Wissens auch das Nichtwissen.289

       4. Plädoyer für Vielheit

      Die Pluralität und die mit ihr einhergehenden nur multiperspektivisch zu fassenden Zugänge zur und Konzeptionen von Wirklichkeit sind Fakt – etwas anderes zu behaupten, wäre Realitätsverleugnung und schlichtweg gefährlich. In der Ernstnahme und nicht – wie es ihm immer wieder zum Vorwurf gemacht wird – in der Erfindung dieser Situation sucht sich nun postmodernes Denken dieser Realität und den Herausforderungen, die sie an menschliches Handeln heranträgt, zu stellen290 und versteht sich so als „Anwalt der Pluralität“291. In einer radikal dekonstruktiven Geste wird Abschied genommen von God‘s eye view, dem Blick von Nirgendwo, von allem Prinzipiellen und Ursächlichen, und es wird das sehende Sehen des Heterogenen eingemahnt, die Anerkennung des Anderen, des Fremden und der Differenz gefordert, auch des Unerhörten, Verdrängten, der Leerzonen, der Zwischenräume, der Alterität, kurz all der Pluralität, die nach dem Niedergang der Metaphysik zum Vorschein kommen konnte. Der Gerechtigkeit – als neuer Leitidee292 – als einer ausgeprägten Sensibilität für Differenzen folgend gilt es, eine Vielheit von Rationalitäten und Regelsystemen anzuerkennen und sie keinesfalls als irrational abzuweisen, nur weil sie nicht dem eigenen Rationalitätstypus entsprechen. Diese Sensibilität ist nach Wolfgang Welsch eine Elementarbedingung in einer Welt der Pluralität293 und beinhaltet ein „waches Gespür für die Situation“, „Aufmerksamkeit aufs Detail, Wachsamkeit gegenüber vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die Zuwendung zum Unscheinbaren sowie Flexibilität und Spontanität“; sie schaut auf die „Unterschiedlichkeit des scheinbar Gleichen“ und richtet sich auf Andersartiges, Brüche und Divergenzen sowie Grenzen und Ausschlüsse.294 In all dem bleibt jedoch das Problem mit Positionen, die ihrerseits die Pluralität nicht anerkennen, bestehen. An diesem Punkt liegen, nach Sander, die Grenzen der Multiperspektivität: Der Sozial- und Erziehungswissenschafter möchte in Bildungsprozessen nur solche Positionen repräsentiert wissen, die ihrerseits bereit sind, andere als die eigene als legitim anzuerkennen.295

      Ein pluralitätssensibles Subjekt ist also in der Lage, zwischen verschiedenen Sinnsystemen und Realitätskonstruktionen zu wechseln, Übergänge296 zum Fremdperspektivischen herzustellen – und das jenseits einer Nivellierung des Fremdseins oder der Stilisierung des Fremden zum Feind, jenseits der Veränderung des Fremden und seiner Konzeption als exotisches Faszinosum und auch jenseits der Wahrnehmung des Fremden als Komplementaritätselement, „als Spiegel des Wahrnehmenden selbst, aus dem der Begegnende für sich selbst lerne und den er als Korrektiv für seinen Selbstfindungsprozess benutze, und insofern nicht vollgültig als das/den Fremde(n) akzeptiert, sondern instrumentalisiere.“297 Solche Übergänge zum Fremdperspektivischen bedeuten also nicht die Auflösung der Differenzen, sind nie definitiv und sollen auch wieder aufgelöst werden, verändern aber immer auch die eigenen Grundlagen:

      „Nicht ein bestimmter Satz rigider Prinzipien, sondern die Fähigkeit des Übergangs zwischen unterschiedlichen Bündeln von Grundsätzen ist jetzt verlangt. […] Der Blick über den Zaun, der gekonnte Wechsel, das Bedenken auch anderer Möglichkeiten gehören zu den Grundkompetenzen postmoderner Subjekte.“298

      Dabei ist keineswegs der regulierende, oftmals vorschnelle, vereinnahmende Konsens das Ziel, sondern es geht darum, Differenzen zur Sprache zu bringen, auch solche, die sich in der Sprache des jeweiligen Diskurses kaum zu artikulieren wissen; es geht darum, das Unhörbare zu hören. Konflikte sind auszutragen und auszuhalten – in der Bereitschaft, das zu tun, besteht das Band, das Menschen verbinden kann und das in einer produktiven Streitkultur endet. Das impliziert, die Vielfalt als Bereicherung und als Einfallstor des Neuen zu sehen und nicht als Bedrohung. Dabei geht es postmodernem Denken stets um eine nur vorläufige und immer wieder zu hinterfragende Annäherungen an das Andere, um Versuche besseren und vertieften Verstehens: „Es bleibt also im positiven Sinn ein utopisches Moment […] als ein vielleicht gangbarer Weg in eine gewaltfreiere Welt.“299

       Ökonomisierung

      Wolfgang Fritzen / Christoph Lienkamp

       1. Das Phänomen Ökonomisierung

      Moderne Gesellschaften sind funktional differenzierte Gesellschaften – so haben es uns Soziologen wie Georg Simmel oder Niklas Luhmann eindringlich vor Augen gestellt: Gesellschaftliche Lebensbereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Erziehung und Religion bilden Teilsysteme, die nach je eigenen Leitperspektiven und Codes funktionieren und sich auf diese Weise strikt von ihrer Umwelt und den anderen Systemen abgrenzen. Doch die genannten Teilsysteme existieren keineswegs einfach schiedlich-friedlich nebeneinander, sondern interagieren vielfältig. Ein Teilsystem hat dabei offensichtlich besonders machtvollen Einfluss – die Ökonomie. So schrieb Simmel bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass das zentrale Medium der Ökonomisierung, das Geld, zu einer „Weltformel“ avanciert sei, und die Geldwirtschaft „es wirklich zustande gebracht [habe, W. F. / C. L.], daß unser Wertgefühl den Dingen gegenüber sein Maß an ihrem Geldwert zu finden pflegt“300. Zwanzig Jahre später betonte Max Weber, dass er den Kapitalismus für die „schicksalvollste Macht unseres modernen Lebens“ halte.301 Was hier schon vor hundert Jahren beobachtet wurde, gilt in der Spätmoderne in verschärftem Maße.

      Seit Anfang der 1990er Jahre ist von Ökonomisierung die Rede. Mit diesem Begriff werden Vorgänge bezeichnet, durch die Orientierungen, Prozesse und Strukturen, die wirtschaftlicher Systemlogik entsprechen, in außerwirtschaftlichen Bereichen der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Dabei ist die Berücksichtigung ökonomischer Faktoren in nicht-ökonomischen gesellschaftlichen Teilsystemen im Sinne schlichter Wirtschaftlichkeit noch keine Ökonomisierung. Erst wo dieser Einfluss ein kritisches Maß überschreitet und zur Unterwerfung der systemeigenen Perspektive unter das ökonomische Prinzip führt, wird es problematisch. Dass beispielsweise ein Journalist auch die verkaufte Auflage und Werbekunden im Blick hat, ist unvermeidlich, doch wo er zuerst mit Blick auf diese schreibt, verletzt er grundlegend das Ethos seines Teilsystems. Auch die strukturellen Kopplungen zwischen Bildungs- oder Gesundheitsbereich und Wirtschaft sind notwendig. Doch der massive Einfluss des Qualitätsbegriffs und der Prozeduren eines privatwirtschaftlichen Qualitätsmanagements kann zu einer Vernachlässigung des erzieherisch bzw. medizinisch Gebotenen führen.302

      Ökonomisierung ist in der Spätmoderne in vielen Bereichen der Gesellschaft präsent. So spricht man von der Ökonomisierung der Bildung, der sozialen Arbeit, des öffentlichen Sektors, der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und nicht zuletzt auch der Kirche.303 Wir beobachten, dass ökonomische Prinzipien Einzug in alle Lebensbereiche halten: Der gute Verdienst wird zur entscheidenden Berufsmotivation, Partnerschaft und Familie werden an ihrer Kompatibilität mit den Erfordernissen des Arbeitsmarkts gemessen, Bildung und Wissenschaft sollen primär der Ausbildung dienen und sich zunehmend über Drittmittel finanzieren, der politische Diskurs wird von ökonomischen Themen dominiert, die Medienlandschaft hängt am Tropf der Werbung, und auch in religiösen Fragen lässt sich eine Konsummentalität beobachten. Ökonomisierung macht das Prinzip von Leistung und Gegenleistung weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus zur leitenden Maxime:

      „Der Mensch wird nicht nur im Supermarkt oder im Reisebüro als ‚Kunde‘ angesehen, sondern auch in Arztpraxis und Krankenhaus, in Stadtverwaltung und Beratungsstelle, in Schule und Universität, ja sogar in Kirche und Gemeinde, wo dann von ‚religiösen Dienstleistungen‘ die Rede ist.“304

      Dem Bereich der Ökonomie kommt offensichtlich die