Sebastian Holzbrecher

Der Aktionskreis Halle


Скачать книгу

entscheidenden Beweggrund betonte der Sprecherkreis mehrfach, dass er mit den Briefen die Absicht verfolge, „eine Plattform zu legen für die Beiträge und Gespräche auf“664 den Vollversammlungen. Er bat deshalb die Empfänger: „Lesen Sie diese Texte zur Vorbereitung auf diese Zusammenkunft, diskutieren Sie sie mit anderen Christen in Ihrer Gemeinde und in Gesprächskreisen. Und: Bringen Sie bitte Erfahrungen, Erlebnisse und Ergebnisse eigener Bemühungen nach Halle mit, damit wir sie dort untereinander austauschen können.“665 Als ostdeutsches Spezifikum gilt zu beachten, dass die ständige Papierknappheit und die äußerst geringe Versorgung mit Kopiergeräten die Erstellung dieser Publikationsorgane in nicht unerheblichem Maß beeinflusste. Dem Sprecherkreis oblag es daher nicht nur die für die Erstellung der Rundbriefe notwendigen Kopiermaterialien aus Westdeutschland zu organisieren.666 Auch die aufwendige mechanische Herstellung der Informationssendungen fiel in seinen Aufgabenbereich. Die zu veröffentlichenden Artikel und Informationen mussten recherchiert und aus den überwiegend bundesdeutschen Quellen auf einer Schreibmaschine abgetippt werden, um anschließend im Nienburger Pfarrhaus mittels einer „Ormig-Vervielfältigung“667 aufwendig per Hand kopiert zu werden. Zum Schutz der Kopier-Maschine vor geheimpolizeilichen Konfiszierungen wurde der Apparat unter dem Altar, versteckt durch das Altartuch, aufbewahrt. Bei einem Umfang von durchschnittlich circa 15 Seiten pro Rundbrief, einer Auflage von 350 bis 500 Exemplaren und einer Frequenz von durchschnittlich fünf Sendungen pro Jahr stellte die freiwillige und unentgeltliche Bereitstellung dieser Informationsquelle eine enorme Leistung dar.668

      Die Themenvielfalt der bis 1989 insgesamt mehr als 110 AKH-Rundbriefe ist für das vergleichsweise kleine Redaktionsgremium beachtenswert. Der Sprecherkreis und das Redaktionsgremium rezipierten nationale und internationale kirchliche, theologische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen und setzten sich mit den sich daraus ergebenden Sachfragen und Streitfällen kritisch und konstruktiv im Sinne der Grundsatzerklärung auseinander. Ihre vollständige Darstellung würde bei Weitem den Rahmen dieser Analyse sprengen. Systematisiert man die über 200 Artikel und Beiträge der Rundbriefe nach inhaltlichen Kategorien, lassen sich vier Hauptgruppen unterscheiden: gesamtkirchliche Themen, kirchliche Fragen und Konflikte in Ostdeutschland, gesellschaftliche Problemfelder und theologische Auseinandersetzungen.669 Als Themen mit gesamtkirchlichem Horizont widmete man sich der „Mischehenregelung“ (1970), der Frage nach einem „Grundgesetz der Kirche“ (1971) sowie der römischen Auseinandersetzung mit dem Fall Hans Küng (1980). Kirchliche Fragen und Konflikte, die konkret auf die ostdeutsche Situation Bezug nahmen, waren neben der Bischofsernennung (1970) die postkonziliare Etablierung der Rätestrukturen (1974), das Themenfeld der Gemeindetheologie (1971-1976), die Dresdner Pastoralsynode (1970-1975), die Zölibatsdiskussion (1976), die Konzilsrezeption(1975/76), die kirchliche Friedensdiskussion in den 1970er und 1980er Jahren sowie schließlich die ökumenische Situation in der DDR (1974-1989). Als gesellschaftsrelevante Problemfelder fokussierte der Aktionskreis Halle vor allem auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und Sozialismus sowie auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Engagement der Kirche (1973), was ihn nicht zufällig in Opposition zum bischöflichen Kurs der „politischen Abstinenz“ unter Kardinal Bengsch brachte. In den 1980er Jahren konzentrierte er sich offensiv auf die Problematik der zunehmenden Abwanderung aus der DDR (1984) und auf die sich ausbreitende Frage nach der Ökologie und den ethischen Implikationen. Als explizit theologische Fragestellungen widmete sich die Hallenser Gruppe vor allem und wiederkehrend der Gemeindetheologie (1971/74/76) und dem Verhältnis von Amt und Gemeinde (1977/78). Als eher randständig ist die Beschäftigung mit der Feministischen und Schwarzen Theologie (1982) zu bezeichnen, wohingegen eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Engagement der Kirche in der DDR 1973 mit einem deutlichen Interessenzuwachs an der von Lateinamerika ausgehenden Befreiungstheologie korrespondierte. Während sich spirituelle Anleihen in den Rundbriefen kaum finden, sind liturgische Überlegungen hinsichtlich der kirchlichen Bußfeiern wesentlich stärker ausgeprägt.

      Grundsätzlich betrachtet lässt sich eine Dominanz innerkirchlicher Inhalte konstatieren, wenngleich es durchaus zu temporär unterschiedlichen Akzentsetzungen und zur Vermischung kirchlicher und gesellschaftlicher Themen kam. Im Vergleich zu den Fragen und Themen bundesdeutscher Gruppen wird zumindest in den 1970er Jahren eine teilweise Parallelität der Auseinandersetzungen deutlich, sodass es durchaus gerechtfertigt erscheint, von einem Ost-West-Thementransfer zu sprechen.670 Wichtig ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es der AKH nicht bei der bloßen Informierung durch die Rundbriefe beließ. In eigenen Stellungnahmen, die auf den AKH-Vollversammlungen erarbeitet und demokratisch autorisiert wurden, bezog der Aktionskreis selbst Position und erhob Forderungen gegenüber den Bischöfen und der Kirche. Hier sind die Positionspapiere zur Bischofswahl und zur Mischehenregelung zu nennen. Innerhalb des Themenspektrums des Aktionskreises Halle stechen drei Themen sowohl quantitativ als auch qualitativ besonders hervor: die Dresdner Pastoralsynode, die ostdeutsche Friedensdiskussion und nicht zuletzt das Themenfeld Ökumene. Das Entscheidende dieser drei Themen ist die Verbindung von innerkirchlichen Reformanliegen und gesellschaftsorientierter Ausrichtung der katholischen Kirche in der DDR und wird daher eigens erörert.

      3.4Ablehnung, Ignoranz, Sympathie

      Der Aktionskreis Halle forderte durch seine zahlreichen Stellungnahmen und Kommentare ganz bewusst zur kritischen Auseinandersetzung heraus. Er provozierte planvoll, um einen innerkirchlichen Dialog- und Reformprozess zu initiieren. Für den ostdeutschen Katholizismus war die Schärfe und Offenheit mancher Positionen ungewohnt. Sie evozierten daher nicht nur Interesse und Aufmerksamkeit, sondern auch Kritik und zum Teil schroffe Ablehnung. Die innerkirchliche Beurteilung des AKH weist dementsprechend ein breites Spektrum auf und lässt sich in verschiedene Phasen, Ebenen und Richtungen unterscheiden. Sowohl Priester und Laien aus der DDR und der Bundesrepublik als auch ost- und westdeutsche Bischöfe und nicht zuletzt Professoren des Philosophisch-Theologischen Studiums in Erfurt haben das Wirken des Aktionskreises teils kritisch, teils wohlwollend begleitet und kommentiert. Der Aktionskreis Halle wurde besonders aufgrund der Ereignisse und Entwicklungen um die Nachfolgeregelung von Weihbischof Rintelen in den Jahren 1969/70 betrachtet und von hier aus überwiegend kritisch bewertet. Erst in den 1980er Jahren orientierte sich die Einordnung des Kreises mehr am Inhalt seiner Erklärungen und an den Motiven der hier versammelten Christen.671

      Hatte es die Protestbewegung im Juli 1969 noch vermocht, weite Teile des Magdeburger Klerus und zahlreiche Gemeinden für eine Solidarisierung mit Friedrich Maria Rintelen zu mobilisieren, entfaltete sich bereits kurze Zeit später erhebliche Kritik, die die ersten Jahre anhalten und prägen sollte. Besonders nach dem Brief von Willi Verstege vom 3. Dezember 1969 wuchs die innerkirchliche Ablehnung.672 Bis dahin schien sich die Protestaktion noch weitgehend im Rahmen üblicher Parteibildungen abgespielt zu haben.673 Doch in jenem Dezemberbrief hatte die Gruppe zu einer erneuten Versammlung eingeladen und sich zu der apodiktischen und höchst missverständlichen Feststellung hinreißen lassen: „Gespräch oder Spaltung, das ist die Alternative.“674 Der Brief provozierte eine Flut von Protestschreiben von Priestern und von Laien, deren Inhalt an Schärfe kaum zu überbieten war. Sie spiegelten auch die Tiefe der Auseinandersetzung wider: „Auf das schärfste (sic!) protestiere ich gegen Inhalt, Geist und Intention des oben genannten Schreibens, das geeignet ist, die Autorität unseres H.H. Weihbischofs zu untergraben, die Atmosphäre im Klerus zu vergiften, unter unseren Gläubigen schwere Verwirrung zu stiften und großes Ärgernis zu erregen sowie dem Ruf und Ansehen unseres Kommissariates Magdeburg beträchtlichen Schaden zuzufügen....“675 In weiteren Briefen wurde am „priesterlichen Geist“676 sowie am grundsätzlichen Sinn und Erfolg derartiger Protest- und Dialogaktionen677 und schließlich an den hehren Zielen der Protagonisten gezweifelt, denen man „Revolte“678 gegen den Bischof vorwarf. Moderatere Stimmen bemühten sich vergeblich um eine Beruhigung der Fronten.679 Schnell kristallisierte sich in verschiedenen Repliken die Meinung heraus, es handle sich nur um die Position einer nichtrepräsentativen Minderheit.680 Eine Antwort auf Willi Versteges Brief argumentierte sogar mit Zitaten des II. Vatikanums, um die Illegitimität des Verhaltens der Priester aufzuzeigen.681 Die dabei angeführten Verweise auf das Verhältnis von Priestern und Bischöfen rekurrierten zwar vorwiegend auf tradierte