Wilhelm Vossenkuhl
Ethik und ihre Grenzen
Eine Einführung als Erzählung
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ISBN 978-3-7873-3965-5
ISBN eBook 978-3-7873-3966-2
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INHALT
EINLEITUNG
Ethische Theorien beziehen sich auf das menschliche Leben von der Geburt bis zum Tod, seit einiger Zeit auch auf alles nichtmenschliche Leben in der Natur und alle biologischen und physischen Lebensgrundlagen. Sie wollen Maßstäbe für vernünftiges Handeln, für gerechte Lebensbedingungen und ein gutes gemeinschaftliches Leben entwickeln. Dieser Anspruch ist umfassend, und die Maßstäbe sollen allgemein unter allen vergleichbaren Bedingungen gelten, nicht nur hier und jetzt, sondern überall und immer und für alle Menschen. Wenn dieser Anspruch erfüllt werden kann, haben ethische Theorien keine Grenzen. Dann gibt es kein Außerhalb der Ethik, weil es ein wesentlicher Anspruch ethischer Theorien ist, für das Ganze der menschlichen und nicht-menschlichen Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen zu gelten.
Dieser Anspruch ethischer Theorien lässt sich, wie ich zeigen will, aber nicht erfüllen. Die Reichweite von ethischen Theorien, von Ethiken, ist begrenzt. Ihre Reichweite ist auch durch das begrenzt, was Menschen wollen und können. Es genügt nicht einzusehen, was getan werden sollte, es muss auch gewollt und es muss gekonnt werden. Es geht in diesem Buch aber nicht um die Grenzen des Wollens und Könnens, sondern um die theoretischen und praktischen Grenzen der Ethik. Es geht um Grenzen der Reichweite und um Grenzen der Voraussetzungen jeder Ethik. Ein Teil der herrschenden Sitten einer Kultur sind normative Voraussetzungen, auf die Ethiken angewiesen sind und die sie selbst weder schaffen noch schaffen können.
Sitten und Ethiken bilden moralische Räume. Diesseits jeder Ethik gibt es Sitten und diesseits und jenseits gibt es die Sorge um Leben und Sterben, der keine Ethik vollkommen gerecht werden kann. Innerhalb dieser Grenzen können Ethiken ihre Ansprüche und Maßstäbe entwickeln. Sie sind für die Praxis menschlichen Lebens trotz der Grenzen unverzichtbar. Deswegen will ich klären, was Ethiken im menschlichen Leben leisten können und was nicht. Es geht mir nicht darum, einem der bekannten tugendethischen, deontologischen, utilitaristischen und konsequentialistischen Ansätze einen weiteren hinzuzufügen. Ich setze auch keine dieser Ethiken fort, gehe aber auf historische Entwicklungen und Einsichten ein (Kap. 4 – 9), die unverzichtbar sind. Um aktuelle Fragen des Lebens und Sterbens geht es in den Kapiteln, die danach folgen. Zunächst geht es mir aber darum, auf erzählende Weise die Lebensräume anschaulich zu machen, in denen sich moralische Fragen stellen, und um Begriffe, die für deren Beantwortung geeignet und wichtig sind.
Menschen leben in Zeiten und Räumen. Es sind gebaute und natürliche, politische, soziale und moralische Räume. Martin Heidegger (1889 – 1976) spricht von der »Räumlichkeit des In-der-Weltseins« (Sein und Zeit, § 23) und davon, dass das menschliche Dasein immer mit einem Raum verbunden ist (§ 24). Die moralischen Räume sind so vielfältig und unübersichtlich wie alle anderen. Es gibt darin Gutes und Schlechtes, Sitten und Unsitten, Tugenden und Laster, Prinzipien und Normen, Gebote, Verbote und Pflichten, das Gewissen und vieles mehr. Ich spreche von moralischen Räumen, weil alles Moralische und Unmoralische immer in den Räumen geschieht, in denen wir leben. Es sind die Räume zu Hause, in der Natur, auf der Arbeit, in der Öffentlichkeit; überall da, wo wir mit anderen leben. Wir leben mit guten oder schlechten Gefühlen, sind glücklich oder unglücklich, hoffend oder zweifelnd, voller Freude oder traurig. Es gibt keine raum- und zeitlose Moral, und Räume