träge zu bewegen.
Was wir wollen, scheint die Bewegung der Zeit so wenig zu beeinflussen wie die Räume. Wir glauben aber, dass unser Wille die Kraft ist, mit der wir uns in Räumen und Zeiten bewegen – gleichgültig, wie erfolgreich wir dabei sind. Die moralischen Räume sind auch politische und soziale, wirtschaftliche und wissenschaftliche, religiöse und kulturelle Räume. Es sind die Räume, in denen wir gut oder schlecht leben, krank und gesund sind und auch sterben. Es sind nicht zuletzt die gut oder schlecht gebauten Räume unserer Wohnungen und der Orte und Städte, in denen wir leben und arbeiten.
Häufig wissen wir nicht, wo wir in diesen Räumen gerade sind und was wir tun sollen. Dann suchen wir nach einer Orientierung in den moralischen Räumen, in denen wir leben. Mancher wünscht sich vielleicht eine Handlungsanleitung, die sagt, was wann wie zu tun ist. Handlungsanleitungen belehren und ersetzen das eigene Urteil. Ich will nicht belehren, sondern lieber beschreiben und erzählen, weil jeder selbst urteilen, sich selbst orientieren und zum Handeln anleiten kann. Niemand lässt sich gern von anderen sagen, was zu tun ist, auch nicht von Ethikexperten.
Manche Fragen des Lebens und Sterbens, des moralischen und amoralischen Verhaltens lassen sich erzählend besser darstellen als in theoretischen Analysen. Einige Fragen und Antworten stammen in diesem Buch aus früheren Zeiten und Lebensräumen, einige aus heutigen. Teilweise sind es ethisch-theoretische Fragen, teilweise sittlich-lebenspraktische, teilweise ganz andere. Wenn ich über ethische Theorien berichte, bin ich weder unvoreingenommen noch unentschieden. Ich will zeigen, wie ich mich selbst mit und in ihnen orientiere, ohne dies allgemein verbindlich zu machen.
Die erste Orientierung in moralischen Räumen bieten seit der griechischen Antike die Sitten an, die Menschen pflegen. Sie pflegen sie in Räumen, in Tempeln, in Landschaften und Städten. Die Sitten in Athen sind andere als in Sparta oder Korinth. Die Sitten der Freien sind andere als die der Sklaven, der Männer andere als die der Frauen. In der Antike gibt es theoretisch anspruchsvolle Ethiken. Sie integrieren die besonders geschätzten Sitten, die Tugenden großer Vorbilder, und erläutern ihre Bedeutung für ein gutes Leben in der politischen Gemeinschaft. Aus exzellenten sittlichen Tugenden werden Ethiken. Nur aus exzellenten sittlichen Tugenden können Ethiken werden. Diesen Zusammenhang zwischen Sitten und ethischen Theorien dürfen wir nicht übersehen. Die Ethik gibt es übrigens schon in der Antike nicht.
Die moralischen Räume sind voller Sitten, die nicht exzellent, sondern Unsitten und Laster sind. Aus ethisch-theoretischer Perspektive ist dies unerfreulich und enttäuschend. Ethische Theorien gibt es aber nur in Büchern, in Debatten, in sog. Diskursen und im Unterricht, aber nicht im Leben. Im Leben bestimmen Sitten die moralische Praxis. Manche Sitten sind gut, nicht wenige sind schlecht und manche sind verwerflich. Es ist deswegen nicht sinnvoll, Sitten allgemein eine ethisch-theoretische Bedeutung zu geben. Viele Sitten säen Zwietracht, erfreuen die einen und verletzen die anderen. Es wäre besser, sich an einer Ethik, die Frieden stiftet, zu orientieren. Wir werden sehen, warum das nicht geht und auch nie ging. Manche Ethiken versuchen, Konflikte zu lösen, andere schaffen selbst welche. Schon in der Antike gibt es mehrere Ethiken. Sie sind über die Tugenden miteinander verwandt, aber doch unterschiedlich. Die exzellenten sittlichen Tugenden genießen in der Antike hohes Ansehen, bevor Platon und Aristoteles sie in ihren Ethiken vorstellen. Die Tugenden gelten bereits diesseits der Ethiken in den moralischen Räumen der athenischen Polis. Diese Tugenden kennen wir heute noch, aber vor allem aus den Texten von und über Platon und Aristoteles.
Gute Sitten gibt es diesseits jeder Ethik und unabhängig von theoretischen Ansprüchen. Jenseits ethischer Theorien gibt es Probleme, die sie nicht lösen können. Es sind gerade die Probleme, zu deren Lösung wir den Rat und die Hilfe ethischer Theorien erhoffen. Die Reichweite dieser Theorien ist aber begrenzt. Einige der Probleme, die jenseits ethischer Lösungsmöglichkeiten liegen, sind mit dem Beginn und dem Ende des Lebens, mit dem Sterben und mit Konflikten verbunden, die ethisch nicht lösbar sind. Auch dann, wenn es keine ethisch begründete, allgemein gültige Lösung für ein Problem gibt, müssen wir bereit sein, Stellung zu nehmen und uns für eine Lösung zu entscheiden, die wir selbst unabhängig von dem, was andere tun würden, verantworten können.
Diese Haltung nenne ich Sorge. Das Wort ist umgangssprachlich vertraut und philosophisch aus Heideggers Sein und Zeit bekannt. Warum ich weniger seine als Goethes Beschreibung der Sorge in seiner Tragödie Faust aufgreife, erläutere ich gleich. Ich verstehe die Sorge gleichwohl unabhängig von diesen Autoren als eine Haltung und eine Grundstimmung des Lebens, eine Lebensstimmung. Sie ist eine Art Unruhe, die uns wie ein Dauerton, der mal stärker, mal schwächer ist, ständig begleitet. Wir sorgen uns um unsere Partner und Kinder, unsere Angehörigen, unsere Freunde, unsere Gesundheit, unsere Arbeit, um die Natur und die Gesellschaft, um unser Leben und Sterben. Es ist gut, dass wir uns sorgen, auch wenn es mühselig ist.
Die Sorge ist aber nicht nur gut. Sie kann sich als Sympathie und Wohlwollen gegenüber anderen äußern und ist dann gut. Sie kann aber auch aus Angst und Trauer bestehen und ist dann auf Dauer und als Zustand des Leidens nicht gut. Wir können uns auch irrtümlich, zu viel und zu wenig um etwas sorgen. Andere können uns mit der Versicherung ›Mach dir keine Sorgen‹ eher beruhigen, als wir selbst es können. Wer sich keine Sorgen macht, glaubt, dass es, wenn nötig, immer Hilfe gibt. Wer dies immer glaubt, ist naiv und verantwortungslos. Sorge und Verantwortung sind nicht zu trennen, aber nicht dasselbe.
Die vielen schattenhaften und dunklen Seiten der Sorge beschreibt Goethe (1749 – 1832) im Ersten und Zweiten Teil seiner Tragödie Faust. Im Ersten Teil heißt es: »Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, / Doch wirket sie geheime Schmerzen, / Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh« (V. 644 – 646). Das ist die Unruhe stiftende Lebensstimmung der Sorge. Im Zweiten Teil des Faust erscheint die Sorge als Gestalt, als eine von vier »grauen Weibern« (V. 11384 – 11498). Sie kommt um »Mitternacht«, wenn sie besonders quälend und ausweglos erscheint. Goethe lässt die Sorge als Schicksalsmacht sprechen: »Wen ich einmal mir besitze, / Dem ist alle Welt nichts nütze; / Ewiges Düstre steigt herunter, / Sonne geht nicht auf noch unter, /… / Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle« (V. 11453 – 56, 11461 f.). Faust will davon nichts wissen: »Hör auf! so kommst du mir nicht bei! / Ich mag nicht solchen Unsinn hören« (V. 11467 f.). Faust verdrängt seine aussichtslose, verzweifelte Lage.
Das Ängstigende der Sorge kann zur tiefen Trauer und Depression werden und das Leben verdüstern. Niemand kann sich ohne Hilfe von einer Depression befreien, weil eine Depression unfrei macht. Es ist moralisch geboten, Menschen mit psychischen Leiden zu helfen. Die ärztliche Sorge um diese Menschen erfordert Sympathie und Wohlwollen, um sie mit medizinischer Hilfe von den Folgen der lebensgefährdenden Sorge zu befreien. Wir sind als sorgende Wesen sowohl moralfähig als auch gefährdet und hilfsbedürftig. Beide Seiten der Sorge können unser Leben bestimmen. Die Sorge um uns selbst und andere, um unser gemeinsames gutes Leben, um die Natur und die Umwelt ist eine Weise zu leben. Sie ist so wenig begründbar oder von etwas anderem ableitbar wie die Sitten. Sie kann mit Zuneigung, Sympathie und Wohlwollen verbunden sein und in Liebe und Freude geschehen. Dabei ist die Liebe, wie Robert Spaemann (1927 – 2018) schreibt, ein tiefer Ausdruck menschlicher Bedürftigkeit. In der bedürftigen Liebe seien »Wohlwollen und Begehren nie eindeutig geschieden« (1989, 136). In wohlwollender Liebe tragen wir füreinander Sorge und übernehmen Verantwortung für das, was wir lieben und für diejenigen, die wir lieben. Wenn wir andere lieben, sind sie uns niemals gleichgültig, was immer sie tun oder getan haben mögen. Liebe erschöpft sich nicht in einem schönen Gefühl uns selbst und anderen gegenüber. Was aus Liebe getan wird, sagt Nietzsche (1844 – 1900), geschehe »immer jenseits von Gut und Böse« (KSA 5, 99). Liebe und Wohlwollen sind auch Ausdruck der Sorge. Wenn es darum geht, wer wir sind, und wie wir leben wollen, welche Verantwortung wir uns selbst und anderen gegenüber haben, geht es um die Sorge.
Die Rede von ›Moral‹, ›Sitte‹, ›Sittlichkeit‹ und ›Ethik‹ ist unübersichtlich, weil es so scheint, als würden die Worte mehr oder weniger dasselbe bedeuten, und so werden sie auch oft gebraucht. Sie bedeuten teilweise dasselbe, teilweise auch Unterschiedliches, sind aber miteinander verwandt. Wittgenstein (1889 – 1951) nennt solche Verwandtschaften in seinen Philosophischen Untersuchungen »Familienähnlichkeiten« (§ 67). ›Moral‹ nenne ich