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Vorwort
Als dieses Buch schon fast fertig war, habe ich mich hingesetzt, um noch einmal die Motivation zu überprüfen, mit der ich es geschrieben habe. Während der Arbeit daran musste einfach alles raus. Da war nicht die Zeit dafür, sich solche grundlegenden Fragen zu stellen.
Aber als dann ein großer Stapel bedruckten Papiers vor mir lag, der meinen Krankheitsverlauf mit allem Drumherum quasi im Zeitraffer beschreibt, ist mir ein bisschen schwindlig geworden. Ich war plötzlich unsicher, ob ich das alles nicht eigentlich nur für mich selbst festgehalten hatte. Ob es Außenstehenden zumutbar ist. Ob es nicht zu persönlich, zu echt und zu konkret ist, um es zu veröffentlichen.
Also habe ich das Manuskript eingepackt, mich damit in ein Kaffeehaus gesetzt und alles von vorne bis hinten noch einmal durchgelesen. Ganz so, als ob ich nicht der Autor, sondern der erste Leser meines Buches wäre. Während dieser Lektüre ist mir eines klar geworden:
Dies ist kein Buch über die Krankheit Krebs. Nicht in erster Linie.
Es ist ein Buch über die Fähigkeit von Menschen, mit Schicksalsschlägen umzugehen, zu kämpfen und noch einmal zu kämpfen. Gerade dort, wo der Kampf schon fast aussichtslos zu sein scheint. Und es ist ein Buch darüber, dass kaum jemand all das sofort und ganz alleine schafft. Als ich erfahren habe, dass ich an Lymphdrüsenkrebs litt, wollte ich nämlich gar nicht kämpfen. Es ging mir einfach nur schlecht, und ich wollte vor allem in Ruhe gelassen werden. Irgendwann gab es auch eine Zeit, in der ich sogar sterben wollte.
Aber da war mein engstes Umfeld, allen voran meine Mutter, und da waren die Ärzte aus dem St. Anna Kinderspital, und die alle wollten das nicht zulassen. Die kämpften um mich und für mich mit, solange ich dazu nicht in der Lage war.
Das war mir anfangs gar nicht recht. Viele der Menschen, die mir während meiner Krankheit begegnet sind, habe ich verflucht, weil ich mich von ihnen einfach nur bedrängt, bloßgestellt und beleidigt gefühlt habe. Auch davon handelt dieses Buch. Wie schwer es ist, jemandem zu helfen, dem es wirklich schlecht geht. Und wie schwer es sein kann, sich helfen zu lassen, wenn man am Boden liegt.
Als ich schließlich im Kaffeehaus die letzte Seite meines Manuskripts gelesen hatte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass jedenfalls noch etwas fehlt. So sehr das meine, und nur meine Geschichte ist, die ich da beschreibe, so sehr ist es doch zugleich auch die Geschichte vieler anderer Kinder und Jugendlicher, die gegen den Krebs gekämpft haben oder es jetzt gerade tun.
Deshalb habe ich mich noch einmal aufgerafft und eine Idee verwirklicht, die ich eigentlich schon von Anfang an hatte. Ich habe mir von einigen Menschen, die wie ich als Kind an Krebs litten, von ihrer Krankheit und von ihrem Umgang damit erzählen lassen.
Und ich habe Prof. Dr. Helmut Gadner besucht, den ehemaligen Leiter des St. Anna-Kinderspitals, um mir von ihm die Geschichte seines jahrzehntelangen Kampfes gegen Kinderkrebs berichten zu lassen.
Alle diese wahren Geschichten sind zu meiner ergänzend hinzugetreten und bilden jetzt gemeinsam mit ihr dieses Buch. Seither habe ich mir die Frage, wofür ich es geschrieben habe, nicht mehr von Neuem stellen müssen. Es war mir ein für allemal klar.
Dies ist kein Buch über Krebs. Es ist ein Buch über sehr junge Menschen, die sich gegen ein Schicksal wehren, das keiner von ihnen verdient hat. Es ist ein Buch für diejenigen, die diesen Weg erst noch gehen müssen und diejenigen, die ihn bereits gegangen sind.
Einer davon bin ich.
Nino Rauch, Wien, Februar 2014
1
Ich schrecke aus dem Schlaf auf. Mein Unterarm fühlt sich feucht an. Es ist dunkel. Ich drücke mich aus meiner Bauchlage hoch. Weit genug, um das Leintuch abtasten zu können. Unter meinen Fingern ist es nass, warm und klebrig.
Vor Schreck ziehe ich meine Hand mit einem Ruck zurück. Ich beuge mich aus dem Bett und drücke den Lichtschalter. Ein, zwei Sekunden brauchen meine Augen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen, dann sehe ich es ganz klar: Mein Leintuch, meine Decke und mein Kissen sind knallrot.
In Panik springe ich auf und betrachte die Lache, die sich langsam ausbreitet, sich in den Stoff frisst und in die Matratze sickert. Der Fleck hat einen Durchmesser von der Größe eines Fußballtrikots. Das Blut tropft von der Bettkante. Dünne Rinnsale. Der Boden rund um die Lache ist rot gesprenkelt, und die Flecken auf dem Teppich laufen schon ineinander. Ich widerstehe dem Impuls, laut zu schreien, weil ich meine Eltern nicht wecken will. Zum Glück teile ich mir mein Zimmer nicht mit meinen beiden kleineren Brüdern Rico und Raffael. So bekommt vorerst niemand mit, was hier geschehen ist.
Entsetzt schaue ich an mir herunter. An meinen Armen klebt Blut, an meinen Fingern, am Körper. Ich begreife nicht, was passiert ist. Ich sehe keine Wunde, fühle keinen Schmerz. »Scheiße, was ist nur los?«, denke ich.
Ich befühle hektisch meinen Bauch, die Arme, den Hals, um doch etwas zu finden, spüre aber keine Verletzung. Zitternd berühre ich meine Nase, und obwohl sie mir nicht weh tut, bin ich sicher, dass das Blut nur von dort stammen kann. Da ich schon seit Wochen unter einem chronisch verstopften Nasenloch und anderen Beschwerden leide, ist das der einzig logische Schluss. Ich atme tief durch und fühle, wie mein Puls wieder sinkt, als mir die Erzählung eines Schulkollegen einfällt, der unter häufigem Nasenbluten leidet und nachts schon öfter in solchen Schlachtfeldern aufgewacht ist. Zumindest hat er das behauptet. »Jetzt hab ich auch was zu erzählen«, denke ich.
Da ich pinkeln muss, gehe ich aufs Klo, und bin froh, dass ich einen Grund habe, das Zimmer zu verlassen, das aussieht, als wäre darin ein brutaler Mord verübt worden. Während ich mich erleichtere, amüsiere ich mich sogar einen Moment lang über die absurde Vorstellung, jemand könnte mein Zimmer so vorfinden und glauben, ich sei erstochen worden. Da bemerke ich, dass mein Urinstrahl nicht gelb, sondern blutrot ist.
Mir wird schwindlig. Ein heftiges Druckgefühl baut sich in meinem Ohr auf und breitet sich im Kopf aus. Als ich noch einmal in die blutige Kloschüssel schaue, kriege ich kaum Luft. Die Bedenken, meine Eltern zu wecken, sind plötzlich weg. Ich laufe in ihr Schlafzimmer und rüttle meine Mutter unsanft wach. Sie schreckt auf, will wissen, was los ist. Ich schalte die Lampe auf ihrem Nachttisch ein und halte ihr meine blutigen Hände entgegen. Erst jetzt sehe ich im Spiegel neben ihrem Bett, dass auch mein ganzes Gesicht wie mit roter Farbe bemalt aussieht.
Meine Mutter starrt mich an wie ein Gespenst. »Was hast du da gemacht!«, fährt sie mich an. Ich stammle herum, als müsste ich etwas verbergen und fühle mich dabei wie ein kleiner, hilfloser Junge. In meinen Augen spüre ich Tränen, die hinauswollen. Da sie jetzt schon so entsetzt ist, traue ich mich nicht, meiner Mutter auch noch von dem blutigen Urinstrahl zu erzählen, obwohl ich sie doch deshalb geweckt habe. Stattdessen entschuldige ich mich sinnlos und murmle etwas von Nasenbluten. Kaum habe ich das Wort ausgesprochen, scheint meine Mutter sich ein bisschen zu entspannen. Das macht auch mich wieder ruhiger.
Sie atmet tief durch, schaut hinüber zu meinem Stiefvater, der immer noch schläft, dann wieder zu mir. »Morgen«, sagt sie, »fahren wir ins Spital«. Sie sagt es in einem Ton, der mir signalisieren soll, dass Widerspruch zwecklos ist.
2
Ich bin vierzehn Jahre alt und habe nur ein Ziel: Profifußballer zu werden. Deshalb geht es mir extrem auf die Nerven, dass ich seit über vier Wochen Probleme mit dem Atmen habe. Das verstopfte Nasenloch. Bemerkt habe ich das in der Schule, dem Sportgymnasium, das ich besuche. Während des Unterrichts kann ich mich dort kaum mehr konzentrieren. Vor allem seit durch den hartnäckigen Schnupfen auch das rechte Ohr belegt ist. Ich höre schlechter, muss nachfragen, wenn mich jemand anspricht, mein Gegenüber darum bitten, seine Worte zu wiederholen. Das macht auf die Dauer schlechte Stimmung, sowohl bei mir, als auch bei den anderen. Umgekehrt verstehen meine Mitschüler und die Betreuer auch mich nicht mehr gut, weil meine Stimme nasal klingt. Den Ausführungen der Lehrer kann ich kaum folgen.
Immer