Nino Rauch

Leben ohne Ende


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      Wir packen unsere Sachen und machen uns von Stockerau aus auf den Weg nach Wien. Erst auf der leeren Straße wird mir bewusst, dass Sonntag ist. Meine Mutter und meine Tante müssen sich wirklich ins Zeug gelegt haben, um diesen Arzttermin zu bekommen, denke ich, und fühle mich dabei nicht gerade wohl. Noch einmal versuche ich, meiner Mutter die ganze Sache auszureden, ihr klarzumachen, wie übertrieben mir das alles scheint. Aber sie geht nicht darauf ein, scheint auf Autopilot geschalten zu haben. Also beschränke ich mich darauf, während der Fahrt murmelnd die obszönsten Schimpfworte auszuprobieren, die ich im Internat gelernt habe.

      Der Arzt, bei dem wir einen Termin bekommen haben, ist Professor, wie das Türschild in der restaurierten Altbauwohnung im vierten Wiener Gemeindebezirk verrät. Die Praxisräume sind hoch und hell, die Wände frisch ausgemalt. Der Wartebereich, in dem ich der einzige Patient bin, ist so groß wie unser Wohnzimmer. Im Hintergrund läuft klassische Musik und es riecht nach Rosenblüten, die auf mehrere Schüsseln verteilt im Raum drapiert sind. Die Umgebung gefällt mir und ich fühle mich mit der Situation versöhnt, habe ein viel besseres Gefühl als bei den Arztbesuchen in Stockerau. »Jetzt bringst du das hinter dich«, mache ich mir innerlich zusätzlich Mut, »und ab morgen wird beim Training wieder Vollgas gegeben.«

      Die Untersuchung verläuft zunächst harmlos. Der Professor betrachtet die Röntgenbilder meiner Stirnhöhlen, die meine Mutter aus Stockerau mitgebracht hat. Er sagt, dass ich den Druck in meinem Ohr beschreiben soll, will wissen, ob er sich in den letzten Tagen ausgebreitet hat. Er fragt nach vorangegangenen Operationen, erkundigt sich, ob ich regelmäßig Medikamente einnehme, und ich erzähle von den mir verschriebenen Nasentropfen. Der Professor notiert einige Worte auf einem Karteikärtchen, bittet mich danach, ein wenig vom Fußballspielen zu erzählen, lauscht meiner nasalen Stimme und nickt. Mit einem Wattestäbchen tupft er Sekret aus meiner Nase und steckt die Probe danach in ein verschließbares Plastikröhrchen.

      Als ich schon meine, fertig zu sein, präsentiert er mir plötzlich einen etwa fünfzehn Zentimeter langen Metallstab, an dessen Enden eine Linse und ein Lämpchen eingebaut sind. Das Ding sieht nicht gut aus, denke ich. Er erklärt mir, dass es sich bei dem Gerät um eine Sonde handelt, mit deren Hilfe er das Innere meines Nasenraums inspizieren wird. Na fein. Er bittet mich, für einen Moment stillzuhalten. Als er mir den Stab vors Gesicht hält, muss ich mich bemühen, nicht zurückzuzucken. Aber der Professor führt ihn so vorsichtig in meine Nasenöffnung, dass ich kaum eine Berührung spüre. Die Untersuchung dauert nicht lange. Als der Professor sie beendet hat, legt er die Sonde an ihren Platz zurück und sieht mich und meine Mutter an.

      »Es handelt sich entweder um Polypen. Oder um einen Tumor«, sagt er trocken.

      Das Wort ›Tumor‹ füllt den Raum. Ich sehe, wie meine Mutter in ihrem Sessel zurückkippt, von der Wucht der Aussage in die Lehne gedrückt zu werden scheint. Ich halte meinen Atem an, fürchte die drohende Möglichkeit, mit dem nächsten Luftzug zu inhalieren und sie so Wirklichkeit werden zu lassen.

      »Und was heißt das?«

      Die Stimme meiner Mutter klingt heiser. Sie hat Mühe, den Satz auszusprechen.

      Jetzt hebt der Professor beschwichtigend seine Hand. Ein Tumor ist nichts anderes als eine Wucherung, ein Gewächs, erklärt er uns. Er kann durchaus gutartig sein. Das aber muss erst durch eine Biopsie festgestellt werden. Dazu schneidet man Gewebe aus dem Gewächs, das später von einem Pathologen unter dem Mikroskop untersucht und analysiert wird. Die Gewebeentnahme bedeutet nur einen kleinen Eingriff von etwa einer halben Stunde, fügt er hinzu.

      Er selbst werde operieren, verspricht der Professor. Handle es sich um Polypen, werde er diese sofort entfernen, andernfalls ein Stück des betreffenden Gewächses für die spätere Untersuchung entnehmen.

      Ich atme wieder. Auch meine Mutter scheint beruhigter. Ihre Stimme hat jetzt den üblichen rauen, aber kräftigen Klang.

      »Wir bekommen doch rasch einen Termin?«, will sie wissen. Der Professor sieht in seinem Kalender nach, führt ein kurzes Telefonat. Er spricht mit seiner Assistentin, nickt uns zu. »Ich kann schon am Dienstag in der Privatklinik ›Goldenes Kreuz‹ operieren, wenn Sie möchten«, bietet er uns an.

      Sandra

      Diagnose Knochenkrebs 1996 im Alter von 16 Jahren

      Im Raum riecht es nach Plastik, nach Desinfektionsmittel und Farbe. Es ist ein künstlicher Geruch, leblos und fremd. Langsam dringt er in Sandras Nase, erfüllt sie und lässt das gerade erwachende Mädchen blinzeln. Benommen versucht sie sich zu erinnern, wo sie sich befindet, doch ihre Gedanken laufen wirr durcheinander. Bilder von Menschen in weißen Gewändern tauchen auf und verschwinden wieder, sind unbekannt und lassen sich nicht zuordnen. Sandra öffnet ihre Augen weit und erblickt eine weiße Zimmerdecke. Zwei Neonröhren sind dort angebracht. Sie kann die Umrisse der Lampen nur undeutlich erkennen. Sandra sieht nicht gut, hat sechs Dioptrien auf dem einen und sieben auf dem anderen Auge.

      »Wo habe ich schon wieder meine Brille hingelegt?«, denkt sie. Verwirrt will sie an ihre Nase greifen und fühlt, dass sie ihre Hand nicht bewegen kann. Sie versucht es noch einmal und scheitert. Erst jetzt bemerkt sie, dass ihre Arme niedergebunden und festgezurrt sind. Erschrocken öffnet Sandra ihren Mund, möchte um Hilfe rufen, doch kein Ton kommt heraus. Wie Blitzlichter erscheinen in ihrem Gedächtnis Bilder, die Sandra nicht einordnen kann. Menschen, die sich über sie beugen. Maskengesichter. Unbekannt und mit erstarrtem Ausdruck. Das Gefühl der Benommenheit wird weniger und sie nimmt nun wahr, dass etwas in ihrer Kehle steckt, ihren Worten den Weg versperrt und in ihrem Inneren scheuert. Nur langsam begreift Sandra, dass es sich dabei um einen Beatmungsschlauch handelt.

      »Warum werde ich künstlich beatmet?« denkt sie verzweifelt und fragt sich, was mit ihr geschehen ist. Das Gefühl, sich nicht bemerkbar machen zu können, ist beklemmend und wirkt wie eine zusätzliche Sperre in ihrer Kehle. Hilflos liegt Sandra auf dem Rücken, ist festgeschnallt und gefesselt. Sie hört ein Piepsen, dreht ihren Kopf ein wenig zur einen, dann zur anderen Seite und erkennt, dass die gleichförmigen Töne von einem medizinischen Gerät verursacht werden. Sie sieht einen Bildschirm mit Linien und Kurven, Kabel in verschiedenen Farben und Plastikschläuche. Außer ihr ist niemand im Raum. Ihr Bein schmerzt, in seinem Inneren pocht und pulsiert es, es drückt und brennt, und plötzlich kommen die Erinnerungen.

      Nach einem halben Jahr, in dem Sandra wegen ihrer Schmerzen von einem Arzt zum nächsten gebracht wurde, in dem sie eine Untersuchung nach der anderen und schon einige Spitalaufenthalte über sich ergehen hat lassen, wurde ihr, für sie völlig überraschend, die Diagnose Knochenkrebs gestellt. Sandra ist bestürzt, als sie erfährt, dass in ihrem rechten Knie ein Tumor wächst, und gleichzeitig erleichtert, weil sie endlich eine Diagnose hat.

      Nach den ersten beiden Chemotherapieeinheiten, die sie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus und im St. Anna Kinderspital erhalten hat, war eine große Operation geplant. Sechs bis sieben Stunden sollte der Eingriff dauern, ihr Bein dabei der Länge nach aufgeschnitten, die Knochen ausgeschabt, der Tumor entfernt und eine sogenannte Endoprothese, eine innere Stütze aus Titan, eingesetzt werden. Verschwommen sieht Sandra jetzt, wie sie auf dem Rollbett in den Operationssaal geführt wird. Undeutlich hört sie die Stimme des Anästhesisten, der ihr erklärt, dass sie nun gleich einschlafen wird. Sie sieht, wie sich eine Schwester lächelnd über sie beugt, spürt die Hand der Operateurin, die ihren Oberarm tätschelt. Sie alle wollen sie beruhigen, begegnen ihr freundlich und hilfsbereit.

      Warum hat mir keiner von ihnen gesagt, dass ich auf der Intensivstation aufwachen könnte?, denkt Sandra, die nun sicher ist, sich auf ebendieser zu befinden.

      Wieder versucht sie, ihre Arme und Beine zu bewegen, spreizt die Finger und Zehen, hebt ihren Kopf. So sieht sie, dass sich hinter dem Fußende ihres Bettes eine Milchglasscheibe befindet, auf deren gegenüberliegender Seite jemand steht. Sandra strampelt und zuckt, so gut sie kann, mit ihren Gliedmaßen. Endlich bemerkt sie die Gestalt hinter der Trennwand und eilt zu ihr herüber. Die Schwester betritt ihr Zimmer, und Sandra lässt ihren Kopf erschöpft in das Kissen fallen, driftet schon wieder in eine Traumwelt ab.

      Achtmal muss Sandra im Laufe ihrer Krebserkrankung operiert werden. Weil ihr Bein manchmal so anschwillt, dass