Sucht man nun nach dem spezifischen Beitrag des Fachbereichs NMG zu den Teilaufgaben von Bildung, ist dieser auf den ersten Blick vor allem im Bereich der «Weltorientierung» zu sehen, wo es um die vielperspektivische Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen unserer Zeit geht. Eine Möglichkeit, den Unterricht in NMG auf grundlegende und relevante Themen zu beziehen, ist die Ausrichtung auf Wolfgang Klafkis «epochaltypische Schlüsselprobleme». Klafki identifiziert sechs solcher Schlüsselprobleme: die Frage von Krieg und Frieden, die Umweltfrage oder die ökologische Frage, den rapiden Wachstum der Weltbevölkerung, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, die Gefahren und die Chancen der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien, die Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-du-Beziehungen.[21] Heute sind diese Schlüsselfragen durchaus noch aktuell oder haben sich gar verschärft. Diverse Autoren und Autorinnen listen inzwischen noch weitere akute Bedrohungen auf, wie etwa ungebremste Globalisierung, nicht nachhaltige Energienutzung, Pandemien, Datenschutz, Terrorismus, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Migration.[22] Vielperspektivische Schlüsselfragen solcher Art bilden eine besondere Herausforderung für den Unterricht in NMG. Einerseits muss der Bezug zur kindlichen Lebenswelt durch die Wahl eines geeigneten Unterrichtsthemas (z. B. in Form einer geeigneten Fragestellung) gewährleistet sein und andererseits müssen vielfältige inhaltliche Angebote und methodische Zugänge den Kindern ein vernetztes Verstehen des Problems ermöglichen. Dieser Anspruch kann zum Beispiel durch den Ansatz des «Philosophierens mit Kindern» eingelöst werden.[23]
Der Bildungsauftrag von NMG geht jedoch weit über die Teilaufgabe «Weltorientierung» hinaus, wie im Lehrplan zum Fachbereich NMG formuliert:
Im Zentrum von Natur, Mensch, Gesellschaft steht die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit der Welt. Um sich in der Welt orientieren, diese verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können. Sie erweitern ihre Erfahrungen und entwickeln neue Interessen.[24]
Die Auseinandersetzung mit der Welt in all ihren Facetten soll die Kinder dazu befähigen, «zukünftigen Herausforderungen zu begegnen sowie Erfahrungen, Strategien und Ressourcen nachhaltig zu nutzen und ihr Handeln zu verantworten»[25]. Folgt man dieser Definition von NMG, lassen sich für alle Teilaufgaben von Heymann spezifische Beiträge finden (siehe Tab. 3). Was für den Fachbereich als Ganzes gilt, gilt für die Formulierung und Wahl des Unterrichtsthemas im Einzelnen. Ein Unterrichtsthema kann sich mithilfe von Heymanns Teilaufgaben von Bildung daraufhin überprüfen lassen, inwiefern es bildungsrelevant ist, das heisst einen Beitrag zur Allgemeinbildung beisteuert.
Wie man von einem Stichwort über die Identifizierung von Bildungsinhalten zu einem Unterrichtsthema in Form einer Fragestellung gelangt, wird in Kapitel 4 aufgegriffen und vertieft. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, einen Überblick zu geben über unterschiedliche Arten, wie fachliche Perspektiven von NMG «in Kontakt» kommen bzw. zusammenspielen können.
3 Fachperspektivität und Integration in NMG
Spielarten des Zusammenwirkens von fachlichen Perspektiven
In Abbildung 2a werden, ausgehend vom Stichwort «Wasser», drei Möglichkeiten dargestellt, in welchem Verhältnis fachliche Perspektivität und fachliche Integration stehen können. Zwei weitere Möglichkeiten werden am Ende dieses Unterkapitels beschrieben.
Das erste «perspektivische» Unterrichtsbeispiel geht von der Frage bzw. vom Unterrichtsthema «Warum schwimmen Schiffe?» aus. Zur Beantwortung dieser Frage ist ausschliesslich Wissen und Können aus der naturwissenschaftlich-technischen Perspektive angesprochen. Im Lehrplan 21 zum Fachbereich NMG deckt dieses Unterrichtsthema innerhalb des Kompetenzbereichs 3 («Stoffe, Energie und Bewegungen beschreiben, untersuchen und nutzen») die Kompetenz 3 («Die Schülerinnen und Schüler können Stoffe im Alltag und in natürlicher Umgebung wahrnehmen, untersuchen und ordnen») mit der Kompetenzstufe 3d («Die Schülerinnen und Schüler können mit Objekten und Stoffen laborieren und ihre Erkenntnisse festhalten») und den vorgeschlagenen Inhalt «Verhalten im Wasser: schwimmen, sinken» ab. Der Fokus der genannten Kompetenzstufe liegt, neben dem inhaltlichen Aspekt, das physikalische Phänomen zu verstehen, auf den Handlungsaspekten des «Laborierens» und «Dokumentierens».
Das zweite Beispiel in Abbildung 2a thematisiert den perspektivenaddierenden Unterricht. Diesmal steht nicht eine Frage, sondern das Stichwort «Wasser» im Zentrum der Unterrichtseinheit (siehe auch das Beispiel zum «Apfel» in Abb. 1). Zu diesem Stichwort kommt einem vieles in den Sinn, wie das Beispiel eines Themenhefts für die dritte/vierte Klasse zu «Wasser» zeigt.[26] Dort werden Inhalte genannt, die vom Wasservorkommen auf der Erde, von den unterschiedlichen Aggregatszuständen von Wasser, von der Oberflächenspannung und davon, wie Pflanzen ‹trinken›, über den Kreislauf des Wassers, Trinkwasserversorgung, Kläranlagen, Meeresschutz, Flossbau und Wassertiere bis hin zu Händels Wassermusik reichen. In der Art eines Brainstormings werden hier Wissensbestände bzw. dazugehörige fachliche Perspektiven zu einem Stichwort addierend aneinandergereiht. Die Folge davon ist, dass kaum ersichtlich wird, was zum Beispiel das Herstellen eines Wasserflosses mit dem Wasserkreislauf und Händels Wassermusik mit der örtlichen Wasserversorgung zu tun hat. Viele Materialien des Themenhefts beziehen sich auch auf sprachliche, mathematische und musische Inhalte, ohne einen ersichtlichen Zusammenhang zum eigentlichen Sachthema. Zudem dienen die musischen Fächer oft nur der Abwechslung, Rhythmisierung oder Dekoration. Kinder erwerben auf diese Weise unverbundene, oft belanglose Wissensinseln und keine Gesamtsicht zu einem Gegenstand. Sie werden nicht dazu angeregt, sich in einem komplexen Themenfeld eine eigene fundierte Meinung zu bilden und sich mit verschiedenen (fachlichen) Perspektiven bewusst auseinanderzusetzen. Ein Bezug zu den Kompetenzen des Lehrplans ist deshalb nur in Form einer beliebigen Aneinanderreihung denkbar. Als Ausgangspunkt für eine Studien- oder Projektwoche könnte ein Stichwort wie «Wasser» unter Umständen sinnvoll sein, wenn den Schülerinnen und Schülern eine möglichst hohe inhaltliche Wahlfreiheit angeboten werden soll. Aber die Auseinandersetzung beschränkt sich dann auf einen spezifischen und isolierten Aspekt, der aufgrund des Eigeninteresses vertieft behandelt wird.
Beim dritten Beispiel in Abbildung 2a zum perspektivenübergreifenden Unterricht geht es immer noch ums Wasser, aber diesmal eingebettet in die übergeordnete Fragestellung «Ist Wasser kostbar?». Was ändert sich dadurch in Bezug auf den NMG-Unterricht? Zunächst wird durch die übergeordnete Fragestellung eine inhaltliche Präzisierung und Fokussierung vorgenommen: Ausgehend vom alles umfassenden Stichwort «Wasser» wird von der Lehrerin, vom Lehrer überlegt, was daran für das Lernen der Kinder, für ihre Auseinandersetzung mit der Welt relevant, grundlegend und exemplarisch sein könnte (z. B. im Sinne von Heymanns Teilaufgaben von Bildung, siehe Tab. 3). Die Formulierung der vorliegenden übergeordneten Fragestellung führt auch dazu, dass es zu einer bewussten Auswahl und Reduzierung der fachlichen Perspektiven und ihrer entsprechenden Wissensbestände kommt. Denn im Gegensatz zum perspektivenaddierenden Beispiel schränkt die übergeordnete Fragestellung die Anzahl der infrage kommenden fachlichen Perspektiven ein. Zur Beantwortung dieser Frage benötigen wir Wissen hauptsächlich aus Kompetenzbereichen des Lehrplans, die sich an der sozialen (Zugang zu Trinkwasser), wirtschaftlichen (Wasser als Wirtschaftsfaktor, Kosten der Wasserversorgung in der Gemeinde) und geografischen Perspektive (Wasservorkommen und deren Nutzung) orientieren. Wissensbestände anderer Perspektiven von NMG oder anderer Fächer sind in diesem Fall nur am Rand oder gar nicht gefragt. Da die zur Beantwortung der Frage hinzugezogenen Wissensbestände und Handlungsaspekte sich alle auf diese zentrale Fragestellung beziehen, ist bei den Kindern eine Vernetzung des erworbenen Wissens, das zu vertieftem Verstehen führen soll, zu erwarten.
Eine vierte Variante, wie die vielperspektivische Ausrichtung von NMG im Unterricht umgesetzt werden kann, lässt sich als «transperspektivisch» bezeichnen (siehe Abb. 2b).
Komplexe