Andrea Müller

Auf den zweiten Blick (E-Book)


Скачать книгу

dass sie diese Fremdeinschätzung verinnerlichen und sich im Lauf ihrer Schulzeit auch selbst weniger zutrauen, was schliesslich zu tatsächlich tieferen Leistungen führen kann (siehe Hintergrundinformationen, «Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten»).

      In der Folge werden Kinder mit dem sogenannten Migrationshintergrund eher tieferen Schulstufen zugeteilt. Manchmal werden dafür Begründungen eingebracht, in denen sich die genannten Normalitätserwartungen spiegeln, etwa dass Eltern mit Migrationsgeschichte nicht über den erforderlichen Bildungshintergrund verfügen würden, um ihre Kinder in genügendem Mass unterstützen zu können, und dass es deshalb kaum Sinn habe, das Kind einer höheren Schulstufe zuzuteilen (Gomolla, 2011). Wenn sich solche Entscheidungen in einer Bildungslaufbahn wiederholen, entsteht eine Verkettung von Benachteiligungen, die im Grunde dadurch verursacht werden, dass Bildungsfachleute den «Migrationshintergrund» pauschal mit Defiziten und mit Abweichungen von einer unhinterfragten «Normalität» in Verbindung bringen.

      Entsprechend besteht also die pädagogische Herausforderung darin, unterschiedliche – und vom Schulsystem wenig honorierte – Voraussetzungen zu berücksichtigen und Benachteiligungen nötigenfalls auszugleichen. Dabei ist allerdings entscheidend, dass diese Benachteiligungen nicht auf der Basis vermeintlich nationaler, ethnischer oder kultureller Gruppenzugehörigkeiten und entsprechenden Stereotypisierungen eingeschätzt werden, sondern dass dabei das einzelne Kind mit seinem Facettenreichtum im Blick bleibt. Letztlich geht es um das Ziel, dieser zweiten Form der Anerkennung zu entsprechen und allen das gleiche Recht auf Bildung zu gewähren.

      Diese dritte Form der Anerkennung steht in einem Kontrast zur zweiten Form. Nicht die Gleichheit und Gleichberechtigung wird betont, sondern – gerade im Gegenteil – die Verschiedenheit: Jeder und jede soll Anerkennung bekommen für seine und ihre Einzigartigkeit und Individualität. Im Fokus stehen also die Besonderheiten, etwa bezüglich Charaktereigenschaften, Talenten, Leistungen und Interessen, aber auch bezüglich Lebensstilen (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136), Herkunftsbezügen und Identifikationen, etwa mit Sprache, Kultur oder Religion. Resonanz auf diese eigene Individualität und Identität zu erfahren, bildet eine Grundvoraussetzung für das Erleben von Wertschätzung und für das Herausbilden von Selbstwert im Rahmen schulischer Bildung (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136). Damit ist durchaus nicht gemeint, dass alle Eigenheiten unkritisch gutgeheissen werden sollen, vielmehr geht es darum, dass sie angemessen «gesehen» und einbezogen werden und also auch nicht versteckt oder verleugnet werden müssen.

      Im Lehrplan 21 ist dieser Aspekt aufgenommen, indem auch hier auf die Grundrechte aus der Bundesverfassung und aus den kantonalen Volksschulgesetzen Bezug genommen und betont wird, die folgenden Werte gehörten zu den grundlegenden Aufgaben der Schule: «Sie fördert den gegenseitigen Respekt im Zusammenleben mit anderen Menschen, insbesondere bezüglich Kulturen, Religionen und Lebensformen» und «Sie trägt in einer pluralistischen Gesellschaft zum sozialen Zusammenhalt bei» (D-EDK, 2016, S. 20 f.). Zudem sollen die Schülerinnen und Schüler «beim Aufbau von persönlichen Interessen, dem Vertiefen von individuellen Begabungen und in der Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit ermutigt, begleitet und unterstützt werden» (D-EDK, 2016, S. 21).

      Auch dieser Anspruch gehört wohl für die allermeisten Lehrpersonen zum selbstverständlichen alltäglichen Handeln. Allerdings zeigt sich auch hier eine spezifische Herausforderung im Migrationskontext: Besonderheiten, die mit Migration in Zusammenhang stehen, sind gewöhnlich gesellschaftlich konnotiert und entsprechend emotional aufgeladen, sodass das Betonen solcher Besonderheiten auch dazu führen kann, dass sich die angesprochenen Schülerinnen und Schüler nicht darin anerkannt, sondern vielmehr subtil abgewertet und ausgegrenzt fühlen. Statt Anerkennung resultiert daraus dann eher Beschämung oder Stigmatisierung (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136). «Wie macht ihr das bei euch in Russland?», «Schau, deine Hände sind ganz schwarz, anders als unsere», «Wart ihr gestern wieder in eurer Moschee?» oder «Ihr esst sicher Reis zum Frühstück, ihr seid ja Chinesen» enthält schnell einen Beigeschmack von Anderssein, Abwertung und Nichtzugehörigkeit. Dazu kommt, dass sich die Angesprochenen mitunter gar nicht in diesen Kategorisierungen wiederfinden können oder wollen. Es wird ihnen damit eine Identität unterstellt – vielleicht sogar mit der guten Absicht der Anerkennung – die sie vielleicht gar nicht, nur zum Teil oder in ganz anderer Weise haben oder die sie gar nicht haben wollen. Stattdessen finden sie sich in einem Ausschlussszenario wieder, in dem zwischen «wir» und «die Anderen» unterschieden wird und in dem sie erleben, dass sie den «Anderen» zugeteilt werden und dass ihnen eine fraglose Zugehörigkeit zum «Wir» subtil abgesprochen wird. Die inhärente Botschaft lautet eher «Du bist irgendwie anders», «irgendwie fremd», «nicht normal und so wie wir» oder «Du gehörst nicht ganz dazu» (Balzer, 2007; Mecheril, 2010, S. 187).

      Wie kann nun der Anspruch auf Anerkennung in der Verschieden- und Einzigartigkeit eingelöst werden, ohne diese ungewollte Wirkung zu erzielen? Manche Lehrpersonen lassen sich davon so sehr entmutigen, dass sie sich ausschliesslich auf Gemeinsamkeiten konzentrieren und herkunftsbezogene Besonderheiten konsequent ausblenden. Wir möchten hingegen dazu ermutigen, eine Haltung «bedächtiger Anerkennung» (Mecheril, 2005, S. 325 f.) einzunehmen, eine nämlich, die sich dieser potenziell negativen Wirkungen bewusst ist und dennoch wagt, herkunftsbezogenen Besonderheiten Beachtung zu schenken. Als Leitsatz kann dabei gelten: Die Schülerinnen und Schüler sollen sich so darstellen und zeigen können, wie sie «zu sein meinen» (vgl. Mecheril, 2010, S. 184) und sich dabei sicher und zugehörig fühlen. Bei einer solchen pädagogischen Orientierung sind Lehrpersonen sensibel dafür, dass Identitäten und Herkunftsbezüge oft vielschichtiger und komplexer sind als angenommen. Sie lassen Raum, damit sich Kinder mit dem zeigen können, was ihnen wichtig ist, und nicht reagieren müssen auf das, was ihnen zugeschrieben wird. Und sie beachten, dass Zugehörigkeitsgefühle im Migrationskontext ganz besonders verletzlich sein können und immer wieder der besonderen Beachtung bedürfen.

AnerkennungsformenEmotionale AnerkennungMoralische AnerkennungAnerkennung der Person
Bedeutung im BildungskontextVertrauensbasis im Arbeitsbündniszwischen Lehrenden und LernendenAnerkennung in der GleichheitAnerkennung im Sinn von Gleichberechtigung, insbesondere in Bezug auf BildungschancenAnerkennung in der VerschiedenheitAnerkennung von Individualität und Einzigartigkeit

      Im pädagogischen Handeln ist also beides gefragt: Einerseits sollen alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Gleichheit im Sinn ihrer Gleichberechtigung anerkannt werden und andererseits auch in ihrer Verschiedenheit im Sinn ihrer Einzigartigkeit und Individualität. Lanfranchi (2008) spricht in diesem Zusammenhang von einem «Drahtseilakt»: Immer wieder muss balanciert und abgewogen werden, je nach Situation und Angemessenheit. Häufig ist deshalb die Rede von einem Anspruch auf «situationsangemessenes Handeln».

      Aber woran können wir uns orientieren, wenn es darum geht, in der jeweiligen Situation das angemessene Handeln zu finden? Forschungen haben gezeigt, dass es einen grossen Unterschied macht, mit welcher Grundhaltung Lehrpersonen an diese Fragen herangehen (Leutwyler & Mantel, 2015). Es lohnt sich daher, auf die eigenen Einstellungen und Weltbilder zu achten, denn sie bilden den Ausgangspunkt für unsere Blickwinkel und Handlungsideen. Wir möchten dazu einladen, dabei insbesondere auf das zu achten, was erst auf den zweiten Blick ins Blickfeld gerät. Häufig merken wir erst bei genauerem Hinsehen, was es auch noch zu beachten gilt oder wo Handlungsmöglichkeiten liegen, die wir auf den ersten Blick übersehen haben. Im Pflegen dieses «zweiten Blicks» liegen die Chancen für das Entwickeln und bewusste Einnehmen einer Haltung, die das situationsangemessene Handeln im Migrationskontext massgeblich begünstigt und auch erleichtert.

      Auf den ersten Blick reagieren wir häufig intuitiv, auch emotional und auf der Basis unserer Gewohnheiten. Und weil diese Gewohnheiten so stark von gesellschaftlichen Diskursen und gängigen Vorurteilen