Andrea Fehringer

Bereit für das nächste Mal


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Ranking der schrecklichsten Arten, dieses Leben zu verlassen? Einen neuen Angstgegner, der am Ende dasteht und das Fallbeil runtersausen lässt?

      Konkrete Beispiele aus dem Berufsalltag können wir gern geben. Im Klinikum Klagenfurt haben wir den Notfallplan auf den chirurgischen Abteilungen eingeführt. Das heißt, es wurden nur noch Not- und Tumoroperationen durchgeführt. Alle anderen Eingriffe mussten warten, bis sich die Situation normalisiert. Für ganz Kärnten wurde ein Intensivkonzept erarbeitet. Likar hat man den etwas paramilitärisch klingenden Titel »Intensivkoordinator für Kärnten« verliehen. Auch zu normalen Zeiten geht es bei uns nicht unbedingt so gemütlich zu wie in einer Bücherei am späten Nachmittag. Intensive Koordination braucht es täglich, sonst gibt es bei den EKGs, die neben den Betten ihre gezackten Muster zeichnen, mehr Nulllinien.

      Es wäre vor allem notwendig, einen Intensivkoordinator in jedem Bundesland einzuführen. Diese neun Krisenmanager könnten sich dann untereinander koordinieren, auch hinsichtlich des intensivmedizinischen Therapieschemas, was aufgrund von Initiativen einzelner auch erfolgte.

      Für die Intensivbehandlung in den Zeiten von Corona sieht unser lokaler Plan so aus: Wir hatten in der ersten Stufe fünf Betten für COVID-Patienten reserviert. In der nächsten Stufe waren 17 Betten in der Intensivstation frei, dann nochmal 18 zusätzlich, also insgesamt 35. Es war und ist alles unter Kontrolle. In Wien war die Situation freilich angespannter. Mehr Menschen, mehr Patienten.

      Und sofort wird lokalpolitisch überreagiert. Hektisch riefen Entscheidungsträger ein Lazarett herbei. Im Krieg gegen das Virus brauche es Feldbetten. Also werden Liegen – schnell, schnell – in einer Tennishalle aufgestellt. Kurze Frage: Warum denkt niemand daran, dass wir Häuser haben, wo seinerzeit Flüchtlinge untergebracht wurden? Diese Gebäude stehen leer und ließen sich viel besser für COVID-19-Patienten verwenden, die aufgrund ihrer sozialen Lage nicht zu Hause bleiben können. Wer dagegen von kriegsähnlichen Situationen spricht, als wären biologische Waffen auf uns abgeschossen worden, löst automatisch Unsicherheit aus. Bei dem einen Mulm im Magen, bei anderen eine Panikattacke. Weltkrieg 3. Das Ende naht. Die Todesengel fliegen herab. Dort vorne lodert das Fegefeuer.

      Dazu kommt, dass jeder Arzt, der positiv getestet wurde, in den Medien vorgeführt wird wie ein Opferlamm. Und dann auch noch die Prominenz und der Hochadel. Prinz Charles hat es getroffen, mein Gott, überlebt das die Queen?

      Wir Mediziner sind vielleicht keine Marketing-Genies, aber eines tun wir nicht: Wir wollen keine Krankheit hochstilisieren und damit noch mehr Unsicherheit in der Bevölkerung erzeugen, als ohnehin schon da ist. Die Politiker singen derweil ihr Hohelied auf Ärzteschaft und Pflegepersonal. Das geht leicht von der Zunge.

      Es ist ehrlich gesagt auch ethisch bedenklich, wenn man mit einem Fingerschnippen auf alle anderen Nöte in der Welt vergisst. Nicht nur die Flüchtlingswelle von Syrien in die Türkei und nach Griechenland. Niemand spricht mehr über die Hungersnöte, niemand spricht mehr über die Kriegstoten. Es wird nur noch über die Corona-Toten gesprochen. Warum?

      Aus medizinischer Sicht dürfen wir sagen: Die Regierung leistet sehr gute Arbeit, keine Frage. Das Problem der Regierung, die diese drastischen Maßnahmen beschlossen hat, sind aber auch die Sekundärfolgen, die als kalkulierbares Risiko hingenommen werden müssen. Die Begleiterscheinungen, dass Hunderttausende Menschen vor dem Nichts stehen, dass Gewalt in den Familien zunimmt, dass möglicherweise Scheidungsraten steigen werden, dass es zu mehr Depressionen kommen könnte, zu Burnout, zu Einkommenskatastrophen. Der sogenannte Kollateralschaden ist hoch.

      Es braucht ein Deeskalations-Szenario. Bislang drehten alle schön fest an der Eskalationsschraube, tote Menschen, Wirtschaft am Sand, aber Bilder der Besserung sehen wir selten. Alle mögen durchhalten, als wäre das ein Marathon. Das Aufatmen ist gekommen, freilich, die Lockerungen auch. Aber das Virus wird sich nicht flugs in Luft auflösen, wenn die Politspitze freundlich nickend verkündet, dass sich die Lage gebessert hat, danke an alle Österreicherinnen und Österreicher. Das Virus wird nicht eingeschüchtert abziehen. So ein Erreger regt sich grundsätzlich nicht auf. Er verbreitet sich emotionslos, kalt.

      Die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, kurz ÖGARI, hat ein Ethikpapier herausgegeben. Das muss man sehr vorsichtig erklären. Derzeit erwarten sich alle Patienten, die Corona-positiv sind, dass sie besonders gut behandelt werden. VIP-Status aufgrund aktueller Not. Als Arzt darf man aber nicht zwischen vorher Schwerkranken und akut Schwer-Corona-Kranken unterscheiden.

      Das führt zu einer heiklen Frage und einem moralischen Dilemma. Ist der Patient schwer krank und Corona-positiv, müsste der gleiche Ansatz wie bei normalen Schwerkranken gelten: Hat der Patient kein Therapieziel und ist auch keine Prognose in Aussicht, sprich keine Verbesserung der Lebensqualität, sollte der Arzt keine Intensivmaßnahme durchführen. Das bedeutet, man lässt den Kranken sterben.

      Niemand hat gesagt, dass Mediziner es leicht haben. Auf einer Intensivstation treffen wir Entscheidungen über Leben und Tod. COVID-19-kranke Menschen werden übrigens, nachdem sie gestorben sind, nicht obduziert, sondern gleich eingegraben oder verbrannt.

      Mitte März hatten wir im Klinikum Klagenfurt zwei Patienten auf der Intensivstation liegen. Alle Vorkehrungen wurden getroffen, auch hinsichtlich Operationen und Schockraumpatienten. Nebenbei erfuhren wir, dass eine Intensivpflegerin in einem Krankenhaus Corona-positiv war. Wenn so etwas passiert, muss man sofort reagieren. Es beginnt mit einem Konzept für das Intensivpersonal im Dienst und der Intensivpflege. Quarantäne, Befragungen, wo die Leute in letzter Zeit waren, wen sie getroffen haben. Diese Interviews sind wichtig, um den Schneeballeffekt der Ansteckung aufzuhalten. Man muss lückenlos herausfinden, wer mit der Frau Kontakt hatte. Das ist natürlich eine Herausforderung. Übrigens auch so ein Wort, das sehr gern verwendet wird. Es gibt keine Probleme mehr, nur mehr Herausforderungen. Klingt positiver, heißt das gleiche. Die Krankenpflegerin ist wieder negativ, sie hatte keine Symptome und musste zwei Wochen daheimbleiben.

      Quarantäne. Die Besserwisser kontrollieren gern, ob man das Wort richtigerweise mit K ausspricht, also Karantäne. Eigenbrötler bevorzugen als Synonym das alte Wort Kontumaz. Macht die Situation auch nicht heimeliger. Und die Lage nicht lustiger. Familien hocken teilweise auf engstem Raum, die Mutter gestresst, der Vater auf Kurzarbeit und das Kind im Internet. Die Zeit zerdehnt sich bis zur Unerträglichkeit. Menschen gehen raus, müssen raus, weil sie in der Isolation durchdrehen.

      Der Mensch kann auch an Verzweiflung sterben.

      Wir meinen, es ist wichtig, dass man die alten Menschen schützt und das Konzept mit der Ausgangsbeschränkung nur solange verfolgt, bis sich eine Besserung abzeichnet. Grund für die Abschottung ist die rasante Verbreitung des Virus, das wissen wir. Für eine Epidemie ist die alles entscheidende Größe der Replikationsfaktor R0.

      Dieses R0 zeigt, wie viele Menschen eine infizierte Person von sich aus ansteckt, den Faktor der Weitergabe. Das Teuflische an der Sache ist, dass der Verlauf nicht linear, also langsam und nachvollziehbar von einem zum nächsten verläuft, sondern exponentiell, unkontrolliert. Bei anfänglichen, in China angenommenen Werten von R4 heißt das: Ein Kranker, vier Kranke, sechzehn, vierundsechzig, zweihundertsechsundfünfzig, eintausendvierundzwanzig, … Die Kurve schießt nach oben, die Zahl der Kranken und auch der Toten schnellt hoch. In Österreich hat sich der Wert im März alle zwei Tage verdoppelt, sprich R2. Ist der Faktor R kleiner als 1, klingt eine Epidemie wieder ab.

      Eine andere Strategie, wie sie beispielsweise Großbritannien am Anfang angelegt hat, ist, die Verbreitung bewusst in Kauf zu nehmen, um die sogenannte Herdenimmunität früher zu erreichen und das reguläre Leben wieder aufzunehmen. Die Strategie der Sorglosigkeit hat einen Nachteil: Sie beschleunigt das Infektionsgeschehen, statt es zu verlangsamen, und erhöht damit das Risiko, dass viele schwere Fälle auf einmal die Intensivstationen bevölkern. In Grippezeiten heikel. Der Shutdown ist nichts anderes als eine Verzögerungstaktik der Ansteckung. Um das System nicht zu überfordern oder zum Einsturz zu bringen.

      Nachdem die Exponentialkurve der Ansteckung abgeflacht war, wurden die Restriktionen gelockert, nicht zuletzt, um das soziale Gefüge und das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten, das wirtschaftliche Überleben sowieso. Mitte April wollte sich die Regierung nicht mit konkreten Zahlen festlegen,