bis zum Schulabschluss ihrer Tochter durchhalten müsse. Ich wünschte es ihr und ihrer Tochter, und ich hielt es aus medizinischer Sicht für möglich. Sechs Jahre, das waren zwei bis drei Jahre mehr, als der statistische Durchschnittswert in ihrer Situation.
Die Zeit verging. Maria Alwaras Tochter, von der ich inzwischen wusste, dass sie Sophie hieß, war eine leidlich gute Schülerin. Ohne größere Probleme stieg sie in die Oberstufe des Gymnasiums auf, bestand beim Wechsel von der sechsten in die siebte Klasse eine Nachprüfung in Latein und erreichte schließlich die achte.
Etwa zu diesem Zeitpunkt hörte Maria Alwara auf, ihr Lebensziel zu postulieren. Ich bekam mit, dass Sophie den Abschluss auf Anhieb schaffte und danach mit ihrer Klasse nach Gran Canaria fuhr. Ich fragte mich, was dieses Ereignis in Maria Alwara auslöste, doch sie kam zunächst nicht darauf zu sprechen und ich fragte nicht nach.
Erst im Herbst des betreffenden Jahres redeten wir wieder darüber. Maria Alwara erzählte mir, dass Sophie an der Universität Wien Biologie und Umweltkunde sowie Philosophie als Unterrichtsfach studieren wolle. »Ich will noch ihre Sponsion erleben«, sagte sie. »Danach kann ich in Ruhe abtreten.«
Ich lächelte.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Sophie wird keine Bummelstudentin sein. Sie ist in den vergangenen beiden Jahren sehr zielstrebig geworden.«
Das hat sie vielleicht von ihrer Mutter, dachte ich.
»Acht Semester«, sagte Maria Alwara. »Das wären dann noch einmal vier Jahre.«
Sie sagte das in scherzhaftem Ton, aber ich konnte in ihren Augen sehen, wie ernst es ihr damit war. Sie fragte mich erst gar nicht, ob ich das für möglich hielt. »Wie war das noch einmal mit den Durchschnittswerten?« Mit einem leisen Schmunzeln beantwortete sie sich diese Frage gleich selbst. »Durchschnittswerte sind nur Durchschnittswerte, richtig?«
Ich weiß nicht, ob Maria Alwara die Jahre zählte, ich tat es nicht. Eines Tages fand ich eine Einladung zu einer Sponsionsfeier in der Post. Sophie Alwara hatte ihr Studium in der Mindeststudienzeit abgeschlossen.
Ich ging zu der Feier und sah Sophie dort zum ersten Mal. Sie war eine junge, den Umständen entsprechend elegant gekleidete Frau, groß gewachsen, und an ihrer Seite hielt sich meist ein noch größer gewachsener junger Mann auf.
Maria Alwara trat neben mich, als ich die beiden gerade beobachtete. »Ein hübsches Paar, nicht wahr?«, sagte sie.
»Ja sehr, sieht nach einer ernsten Sache aus«, sagte ich.
Wir wechselten einen Blick. Ich ahnte, dass Maria Alwara ein neues Lebensziel gefunden hatte. Vermutlich wollte sie durchhalten, bis ihre Tochter verheiratet war. Wir lachten, weil uns klar war, dass wir beide gerade das Gleiche dachten.
»Es kann weniger sein als der Durchschnittswert, aber auch mehr«, sagte sie. »Das haben Sie mir damals bei der Diagnose gesagt. Was genau bedeutet das eigentlich?«
»Dass es viel weniger sein kann«, sagte ich, »aber auch viel mehr.«
Sie lächelte dankbar. Sie war gealtert seit damals, und ihre Krankheit und die Behandlungen hatten wohl einiges dazu beigetragen. Doch etwas von dieser Energie strahlte sie noch immer aus. »Nun, viel weniger geht ja inzwischen nicht mehr«, sagte sie. »Es kann nur noch viel mehr werden.«
Vor einigen Tagen fand ich eine Einladung zur Hochzeit von Sophie Alwara und Klaus Epstein in der Post. Ich werde auch diesmal dabei sein und hoffe, dass das junge Paar bald Nachwuchs haben wird. Dann wird sich Maria Alwara eine Menge neuer Lebensziele setzen können, geprägt von ihrer Liebe und dem starken Gefühl, gebraucht zu werden.
DER FALL ROBERT THUCH
Als ich Robert Thuch zum ersten Mal sah, war er braun gebrannt und elegant gekleidet. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass er seine noch dichten Haare färbte. Thuch war 18 Jahre davor, mit 49, in die USA ausgewandert und hatte sich in Florida beruflich mit Immobilien beschäftigt, nachdem er dort schon zuvor von Wien aus Geschäfte gemacht hatte. Er schien dabei recht geschickt gewesen zu sein, machte auf mich allerdings den Eindruck, dass er immer eher in einen aufwendigen Lebenswandel als in die Altersvorsorge investiert hatte.
Thuch hatte ein gutes Leben geführt, so viel war sicher, ein beneidenswert freies und an vielen Tagen aufregendes, mit Freunden, die es machten wie er. So erzählte er es mir. Unversehens waren die Jahre vergangen, war seine Jugend vergangen, war der größte Teil seines Lebens vergangen. Wie das eben so ist. Jetzt hatte er ein Dickdarm-Karzinom mit Metastasen in der Leber.
Robert Thuch bereute nichts. Er hatte sein Leben so geführt, wie er es führen wollte, unabhängig, im Bewusstsein dessen, was er tat, und auch, worauf er verzichtete. Er war immer bereit gewesen, seine Entscheidungen klar, nüchtern und ohne Illusionen zu treffen. Das hatte er auch getan, nachdem ihn amerikanische Ärzte über seine Erkrankung informiert hatten. Er war aus den USA zurück in seine alte Heimat Wien gekommen, was viele Patienten, die diese Möglichkeit haben, in seiner Situation tun.
Dies aus pragmatischen Überlegungen. Thuchs amerikanische Krankenversicherung kostete rund 10.000 Dollar im Jahr. Zusätzlich musste er bei allen Behandlungen einen Selbstbehalt von zwanzig Prozent bezahlen. Die für eine Chemo-Immuntherapie nötigen Medikamente kosten etwa 100.000 Dollar im Jahr, womit er alleine damit auf 30.000 Dollar kam, die Kosten für den Aufenthalt im Krankenhaus, die notwendigen Untersuchungen und die Durchführung der Behandlungen noch gar nicht mitgerechnet. Für einen Selbständigen ohne große Rücklagen ist das eine unbehagliche Situation. Ich verstand jedenfalls Thuchs Entscheidung, vor dem amerikanischen Gesundheitssystem nach Wien zu flüchten, wo er nach wie vor sozialversichert war und sich wenigstens des Geldes wegen keine Sorgen machen musste.
Ich vermutete, dass ihn die amerikanischen Ärzte auf ihre nüchterne Art bereits über seine Überlebenschancen und seine Lebenserwartung informiert hatten. Beides war zwischen uns jedenfalls kein Thema und wir begannen umgehend mit der Behandlung. Dazu gehörte eine Chemo-Immuntherapie, die er in dreiwöchigen Intervallen erhielt, damit er zwischenzeitlich in die USA fliegen konnte. Doch die Behandlungen verloren relativ rasch ihre Wirksamkeit. Irgendwann entschied er sich, in Wien zu bleiben, da ihn langsam die Kräfte verließen und er eine Metastase in der Wirbelsäule entwickelt hatte, die nach anfänglich erfolgreicher Strahlenbehandlung wieder zu wachsen und zu schmerzen begann. Wir legten einen Katheter ins Rückenmark, um eine kontinuierliche Opioid-Therapie einzuleiten.
Nach einigen Wochen bat er mich um ein Wort unter vier Augen. »Ganz ehrlich«, sagte er. »Ich würde es gerne beenden.« Für ihn sei jeder weitere Tag nur eine weitere Belastung und es fehle ihm die Perspektive.
Thuch hatte sonst niemanden, mit dem er über diese Dinge sprechen und seine Ängste und Sorgen teilen konnte. Seine amerikanischen Freunde, so sie denn eng genug gewesen wären, kamen nicht zu ihm nach Europa, und wenn sie doch gekommen wären, hätten sie ihm nicht auf Dauer als treue Begleiter zur Seite stehen können. Ab und zu besuchten ihn alte österreichische Freunde, doch sein Kontakt zu ihnen war, soweit ich das mitbekam, abgekühlt.
Ich sagte ihm, das Stationsteam würde ihn aufgrund seiner charmanten Persönlichkeit besonders schätzen, und dass wir uns entsprechend unserem Credo wie bei allen anderen Patienten um das bestmögliche Ergebnis für ihn bemühen würden. Beides stimmte natürlich, doch als Motivation zum Weiterkämpfen war das dünn, das war auch mir klar. Er ließ es dabei bewenden, wohl eher aus Rücksicht auf mich als aus neuem Lebensmut.
Wenige Wochen später sprach er mich noch einmal darauf an. »Die Situation ist für mich extrem belastend, aber ich habe mich damit abgefunden«, sagte er, »ich will die Dinge bloß realistisch betrachten, das habe ich im Leben immer getan.« Trotz all der Schmerzmedikamente habe er dauernd Schmerzen. Außerdem leide er unter den Nebenwirkungen der Schmerztherapie, habe einen trockenen Mund, seine Verdauung funktioniere nur mehr mit einem starken Abführmittel, zudem habe er den Eindruck, dass die Morphintherapie sein Denkvermögen beeinträchtige. »Ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich bin allein. Vor mir liegt nichts mehr, auf das ich mich freuen könnte, weder auf einen Besuch morgen, noch auf etwas in fernerer Zukunft, weil ich, so