Fuchs und anderen Philosophen („Leib“ kommt vom indogermanischen „lip“ oder „lib“ und bedeutet „Leben, Erleben, der erlebende Mensch“, ist also nicht mit „Körper“ gleichzusetzen) ein besonders fruchtbarer Boden. Darüber hinaus haben Erkenntnisse und Modelle der Säuglingsforschung und der Neurowissenschaften viele der Erfahrungen kreativ-therapeutischer Prozesse bestätigt und vertieft. Aus diesen Auseinandersetzungen sind theoretische Modelle hervorgegangen, die dann wiederum unsere Praxis bereichert und die Entwicklung neuer praktischer Methoden angeregt haben.
Wir haben diesem Ensemble den Namen Kreative Leibtherapie gegeben. Einige unserer theoretischen Grundlagen, unsere Modelle Kreativer Leibtherapie wie z. B. Erregungskonturen, Primäre, Konstitutive und Raum- und Richtungs-Leibbewegungen haben sich aus der Verbindung der genannten Quellen, aus unserer eigenen therapeutischen Ausbildung mit unserer therapeutischen Praxis entwickelt. Unsere Erfahrungen haben wir sowohl in der Einzeltherapiepraxis als auch in den kreativ-therapeutischen Ausbildungsgruppen gesammelt, die mein Mann und ich geleitet haben.
Wir haben ein großes Interesse am Lehren, an der Nachvollziehbarkeit und Transparenz von therapeutischen Prozessen, und wir haben viel Neugierde und Freude an dem, was Kolleg/innen und Therapie-Lernende an eigenem Stil daraus entwickeln. Das Erleben jedes einzelnen Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, birgt Überraschungen, die keine therapeutische Einheit wie eine andere sein lässt. Und dennoch gibt es Erfahrungen, die wir jetzt schon über 20 Jahre machen dürfen, die sich bündeln lassen und als Modelle einen theoretischen Boden und Orientierungsrahmen bilden, die dann in den kreativen Methoden ihren Ausdruck finden.
An dieser Stelle muss und will ich meinem Mann Udo Baer meine Wertschätzung aussprechen: für sein leidenschaftliches Interesse am Wachstum von Menschen, für sein Engagement im Dienste der Heilung ihrer Verletzungen und für seine Leistung in der theoretischen Fundierung und Didaktik Kreativer Leibtherapie aussprechen.
Ohne seine unterstützende, mich aufrichtende, Mut machende Haltung und seine freigiebige und unermüdliche Diskussionsfreude ist die Entstehung dieses Buch undenkbar. Es ist in weiten Teilen im Grunde ein gemeinsames. Aber ergänzend z. B. zu unserem Fachbuch „Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde. Methoden und Modelle leiborientierter Tanztherapie“ (Baer, Frick-Baer 2001/08) oder dem musiktherapeutischen Fachbuch, „Klingen, um in sich zu wohnen“ (Baer, Frick-Baer 2004) und den anderen gemeinsam herausgegebenen Büchern und Artikeln sowie dem Fortbildungsskript zur Kreativen Traumatherapie und -begleitung ist dieses Buch mein Versuch, den Besonderheiten der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, Bedeutung und Gewicht zu geben. Mein aufrichtiges Anliegen ist es, meinen Anteil, so gut ich es vermag, dazu zu tun, dass diese Menschen im therapeutischen und begleitenden Prozess Unterstützung finden, sich aufzurichten.
Kreative Traumatherapie kann mit anderen Verfahren, die auf einem humanistischen Menschenbild beruhen, verbunden werden. Therapeut/innen dieser anderen Richtungen, die in ihrer professionell-persönlichen Haltung grundsätzlich am Erleben der Klient/innen, an ihrer Innenwelt und nicht an ihrer Erziehung interessiert und orientiert sind und den therapeutischen und helfenden Prozess als Resonanz- und Beziehungsentwicklungsprozess begreifen, können von ihr sicherlich professionell-persönlichen Gewinn haben. Auch wenn Kreative Leibtherapie als „Mutter“ der Kreativen Traumatherapie eine fundierte, eigene Richtung ist, so ist sie offen für Integrationsbewegungen und bemüht sich um einen fruchtbaren Austausch. Abgrenzung gilt nicht anderen Verfahren, sondern Verletzungen der Würde.
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Das Traumaerleben und seine Folgen
2.1 Spuren und Phänomene
Die Traumatherapie und -begleitung soll und will Heilungsprozesse bei Menschen unterstützen, die an den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden. An den Erscheinungsformen dieses Leidens, an dessen Phänomenen, gilt es anzuknüpfen, will man die betroffenen Menschen ernst nehmen. Dabei darf und soll es nicht bei einer Aufzählung der Phänomene bleiben. Die Aufmerksamkeit muss sich auf die Untersuchung der inneren Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und dem Erleben der traumatischen Situationen richten. Ich werde die Untersuchung des Traumaerlebens und seiner Folgen damit beginnen, Phänomene darzustellen, mit denen Klient/innen v.a. in der Anfangsphase einer Therapie und dann, wenn sie nicht ausdrücklich wegen ihres Traumas Hilfe suchen, ihr Leiden beschreiben. Ich werde diesen Spuren folgen und von dort aus werde ich Verbindungen zum Erleben der traumatischen Situationen ziehen.
Jedes Phänomen des Erlebens eines Menschen kann in Verbindung mit Erfahrungen sexueller Gewalt stehen und als ein Symptom der Traumafolgen auftreten. Dies ist wichtig zu wissen, um sich immer wieder offen auf die Begegnung mit den Klient/innen einstellen zu können, deren Erleben ernst zu nehmen und deren Kompetenz zu achten. Die Symptomsammlungen des Posttraumatischen Stresssyndroms und anderer diagnostischer Klassifizierungen sind wichtige Hinweise und müssen als Anhaltspunkte herangezogen werden. Gegenüber solchen und ähnlichen Sammlungen ist dennoch Vorsicht angesagt. Selbstverständlich lässt nicht jedes einzelne Symptom auf Erfahrungen sexueller Gewalt oder anderer traumatischer Erfahrungen schließen, auch nicht jede Häufung mehrerer Symptome. Ebensowenig ist das Nicht-Vorhandensein bzw. Nicht-Offensichtliche „klassischer“ Symptome ein Hinweis darauf oder ein Beweis dafür, dass dem betroffenen Menschen keine sexuelle Gewalt widerfahren ist. Zu individuell ist die Verarbeitung biografischer Erfahrungen in jeder Persönlichkeit, zu subjektiv ist jedes Leiden. Symptome geben keine Gewissheiten, sie sind eher Spuren, die zu Fragen und Suchbewegungen Anlass geben.
Es sind gerade am Anfang der therapeutischen Begegnung häufig nicht Symptome des Posttraumatischen Stresssyndroms oder sonstige offenkundige „Traumathemen“ (wie gestörte Sexualität, Flashbacks, Schlaflosigkeit, Ängste …), die im Erzählen der Klient/innen im Vordergrund stehen, sondern oft „harmloser“ und alltäglicher daher kommende Phänomene, die allerdings nichtsdestoweniger im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Trauma stehen und die Qualitäten des Traumaerlebens beleuchten.
Das häufigste, worüber traumatisierte Klient/innen nach meinen Erfahrungen in einem Erstgespräch klagen, ist ihr mangelndes oder fehlendes Selbstwertgefühl. Dies äußert sich im Großen wie im Kleinen, bei besonderen Herausforderungen des Lebens wie im Alltag. Selbstverständlich ist der Umkehrschluss unzulässig, dass mangelndes Selbstwertgefühl immer oder meistens auf traumatische Erfahrungen schließen lässt. Doch auf der Skala der Phänomene, an denen Menschen mit Traumata leiden, scheint mir das geringe Selbstwertgefühl die „Nummer 1“ zu sein. Mögen es manche Klient/innen auch hinter scheinbar selbstsicherem Auftreten oder beruflichem Erfolg verbergen, so ist die Selbstverunsicherung und oft Selbstabwertung doch das, was sie innerlich erleben. Wenn der innere Kampf dagegen und die Anstrengung, diesen Spagat aufrechtzuerhalten, zu groß und zu auslaugend werden, führt dies oft zum Schritt in die Therapie.
Dass das Selbstwertgefühl bei Opfern traumatischer Erfahrungen und insbesondere sexueller Gewalt gemindert und gestört ist bzw. als zerstört erlebt wird, ist nachzuvollziehen. Sexuelle und andere Gewalt gehen über die persönlichen und intimen Schutzgrenzen hinweg und behandeln Menschen als Verfügungsmasse ohne Eigenwert. Etwas davon bleibt in Menschen zurück. Mit den solchen traumatischen Situationen innewohnenden Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden bleibt das Erleben der Wertlosigkeit zurück.
Das Gefühl der Unverletzlichkeit und Geborgenheit, das behütete Kinder haben und sie im Idealfall auch als Erwachsene als Grunderfahrung durchs Leben begleitet, wird durch sexuelle Gewalt und andere traumatische Situationen brutal gebrochen. Dieser Schock verunsichert und diese Verunsicherung bleibt über die traumatische Situation hinaus. Der innere zentrale Ort, von dem aus Menschen Entscheidungen treffen und Bewertungen, auch Selbstbewertungen, vornehmen, wird zumindest gefährdet, meist geschädigt (s. Kap. 3.2.2).
Oft wirkt diese Schädigung und Verunsicherung so tief, dass Klient/innen mit traumatischen Erfahrungen häufig davon erzählen, dass sie „verrückt sind“ oder „Angst haben, verrückt zu werden“. Dies ist Ausdruck der existenziellen